Meerestochter
ihn damals mit aufs Boot genommen, hatte er sagen wollen. Dann wäre er mit ihnen gestorben und hätte jetzt seine Ruhe. «Adrian!» Doch von ihrem Neffen war keine Spur mehr zu sehen. Alles, was ihr antwortete, war der Seewind und ein fast betäubender Schwall von Rosenduft.
«Adrian, mein Gott.» Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht auszusprechen, was sie befürchtete.
Es war draußen fast wärmer als in ihrer Küche mit den dicken Steinwänden. Rose blieb lange so stehen und lauschte, bis ihr die Brandung in den Ohren dröhnte. Hier und da erklang ein verschlafener Möwenruf, aber keine Schritte, kein Gemurmel und keine Erklärung für das, was eben geschehen war. Hinter ihr knarzte eine Tür.
«Rose?»
Das war Christy. Sie stand da in einem T-Shirt von Adrian, das sie als Nachthemd trug und das ihr viel zu groß war. Ihr langes schwarzes Haar hüllte sie ein wie ein wirres Netz. Sie rieb sich die Augen. «Ich dachte, ich hätte etwas gehört.»
Rose schaute sie an, und die Tränen traten ihr in die Augen. «Komm erst mal rein», sagte sie, als das Mädchen Anstalten machte, sich neben sie in die Tür zu stellen. «Ich mach dir einen Tee.»
Verzweifelt schaute sie zu, wie Christy am Tisch zusammensank, ganz verschlafen, aber mit einem Lächeln, als sie sagte: «Ich hab von Adrian geträumt.»
«Tja», sagte Rose bitter. «Ich wünschte, das hätte ich auch.»
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29. Kapitel
Knarrend ging die Tür auf. Ondra starrte auf das Zimmer, das Adrian vor über zehn Jahren als Kind verlassen hatte.
Rose folgte ihr, eine Reisetasche in der einen Hand, eine Petroleumlampe in der anderen. Außer Atem stellte sie beides auf den Tisch. «Es gibt unten einen kleinen Generator. Ich sehe gleich mal nach, ob er noch funktioniert, dann hast du hier Licht und …»
«Ich brauche kein Licht», sagte Ondra tonlos. «Ich kann im Dunkeln hervorragend sehen.»
Rose betrachtete sie eine Weile stumm. «Ja», gab sie dann zu. «Bei Jonas war das genauso.» Sie wollte auf die junge Frau zugehen, überlegte es sich aber anders und blieb, wo sie war. «Christy», begann sie. «Du musst dich nicht hier verkriechen. Ich weiß nicht, was in Adrian gefahren ist, aber ich bekomme es heraus. Das geht vorbei, glaub mir.»
Ondra schüttelte den Kopf.
«Du hast bei mir immer ein Heim», setzte Rose hinzu.
Ondra ergriff ihre Hand, drückte sie und ließ sie wieder los. «Ich habe kein Zuhause mehr», sagte sie. «Aber danke.»
«Tja, also.» Rose flüchtete sich in Geschäftigkeit. «Dann wollen wir mal sehen.» Sie öffnete Schränke und Schubladen, packte aus und schuf Platz für die Dinge, die sie dem Mädchen mitgegeben hatte. Dabei schob sie die Sachen ihrer Schwester und ihres Schwagers beiseite mit einer Selbstverständlichkeit, die ihr am Morgen dieses Tages noch unmöglich erschienen wäre. Hier und da hielt sie inne, strich über einen Stoff, erlaubte sich eine Erinnerung. Einmal drückte sie ihr Gesicht in eine Bluse, die sie an Lily immer bewundert hatte. Sie roch nach Staub. Rose straffte die Schultern. Es gab Dringlicheres zu tun.
«War Jonas auch manchmal hier?», fragte Ondra, noch immer wie betäubt.
Rose hielt nicht in der Arbeit inne. «Wegen des Kühlschranks müssen wir etwas unternehmen», stellte sie fest. «Wie? Ach so, ja. Ja, er war hier. Nicht hier oben. Aber drunten. Es war sein Bootshaus, seine Werkstatt. Er hat hier viel Zeit verbracht.» Sie hielt gedankenvoll inne, beschwor Bilder ihres Mannes herauf, wie er bastelte und vor sich hin arbeitete. Wenn er zu lange ausblieb, war sie mit einem Korb hierhergekommen, so wie gestern. Mit Kuchen oder Sandwiches. Und Tee. Und sie hatten unter den Bäumen gesessen. Rose holte tief Atem. «Der Raum hier ist erst ein späterer Ausbau.»
«Gut», stellte Ondra nur fest und trat ans Fenster. Es ging wie alle anderen nach hinten hinaus, auf den Apfelbaumgarten und die Felswand. Wenn man das alles betrachtete, konnte man gar nicht glauben, dass sich auf der anderen Seite die Weite der See öffnete. Dennoch war es das Heim eines Wesens wie sie gewesen. Sie atmete tief ein. Doch, man roch es: die Brise und von unten herauf das brackige Wasser und den Geruch von Holz, das in Salzwasser moderte, auch von Fisch. Sie dachte an den Conger, der sich dort durch das nachtschwarze Wasser schlängelte. Früher hätte sie mit ihm getanzt. Jetzt fror sie. «Wann wusstest du es?», fragte sie.
Rose verstand.
«Nach wenigen Wochen. Wir hatten …» Sie
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