Meerestochter
hielt inne. «Wir waren ein Liebespaar geworden. Da gestand er mir, dass er nur meinetwegen hier war. Und dass er bleiben wollte.» Ihre Stimme wurde immer leiser. Dann versuchte sie ein Lachen. «Ich habe damals im Bikini noch eine weitaus bessere Figur gemacht, schätze ich.»
«Adrian kann nicht schwimmen.» Ondra rührte sich nicht.
Rose trat neben Ondra ans Fenster und schaute hinaus. «Ich wünschte, ich wüsste, was damals geschehen ist», sagte sie. Als Ondra nicht antwortete, schüttelte sie den Kopf und wandte sich ab, um weiterzuarbeiten.
«Ich kenne ihn», sagte die Nixe endlich. «Den Mann in deinem Buch.»
«Jonas?» Rose fuhr herum.
«Als Mama gestorben war, war Papa eine ganze Weile fort.» Ondra machte eine Pause. «Nicht, dass er je viel da gewesen wäre. Aber damals war er richtig lang weg. Ich war noch klein. Mein Onkel kümmerte sich um mich. Papas Bruder. Er war ganz anders als Papa. Nicht, dass sie nicht auch Ähnlichkeiten gehabt hätten. Aber mein Onkel war nett, warmherzig, tröstend», sie überlegte, «lustig. Er mochte Kinder.» Ondra wandte sich zu Rose um. «Er mochte mich.» Sie lächelte entschuldigend, aber in ihre Augen schossen Tränen. «Er war wie der Mann auf deinem Bild.»
«Dein Onkel.» Rose hielt den Atem an.
Ondra nickte.
«Was geschah mit ihm?» Rose meinte, ihr müsse schwarz werden vor Augen. Die Dunkelheit drehte sich um sie, und sie griff haltsuchend nach dem Fensterbrett.
«Er verschwand.» Ondra legte ihr die Hand auf die Schulter. «Vor etwa fünfzehn Jahren.»
«Du meinst …?»
«Ich weiß es nicht», sagte die Nixe. «Ich habe ihn nie wiedergesehen.»
«So wie ich.»
Nach einer Weile des Schweigens, in der Rose langsam wieder zu sich kam, fragte sie: «Wie war sein Name? Sein wirklicher, echter Name?»
Ondra überlegte. Dann sagte sie leise: «Das weißt du doch. Er hieß Jonas.»
Später, als sie alleine war, setzte sie sich ans Ufer auf der Suche nach Trost. Aber da war keiner. Das Wasser fühlte sich kalt an auf ihrer Haut und ließ sie frösteln. Es war noch niemals kalt gewesen, es war wie ihr zweites Selbst gewesen. Jetzt schwappte und gurgelte es zwischen Gras und Steinen, bildete Pfützen und Tümpel, Säume und Schaum wie ein fremdes Lebewesen, ein Hund, der schwanzwedelnd auf sie zukommen oder zuschnappen konnte. Ondra hätte es nicht zu sagen vermocht. Aber ebenso groß wie ihre Sehnsucht war ihre Angst.
Ein Kauz schrie und ließ sich auf einem Ast in ihrer Nähe wieder. «Schuschu», rief er erneut.
«Ja, ja», antwortete Ondra ihm missmutig. Die Tiere spürten noch, was sie einmal gewesen war. Aber sie war es nicht mehr. Nein, sie war nichts mehr. Mit einem Mal schluchzte sie auf und schlug mit der Hand auf das Wasser, dass es spritzte. Sie war ein Nichts, ein Niemand, ein Irrtum, sie war das Letzte, die Einzige ihrer verkehrten Art. Ein Monstrum. Kein Wunder, dass Adrian sie nicht liebte.
Denn das tat er nicht, da konnte Rose reden, was sie wollte. Rose war lieb, Rose meinte es gut. Aber sie suchte in Ondra nur etwas, was sie selbst verloren hatte. Sie wusste gar nicht, was sie da sagte. Warum, hatte Ondra sie gefragt. Warum tat er das? Hatte er denn gar nichts dazu gesagt?
Rose war verlegen geworden und hatte herumgedruckst. Er hätte es bestimmt nicht so gemeint, hatte sie schließlich erklärt. Ondra war verzweifelt. Sie konnte Roses Gedanken nicht mehr lesen, wie sie es früher gekonnt hätte, als sie einfach in ihren Kopf eingedrungen wäre und sich ihre Erinnerungen geschnappt hätte, um sie zu betrachten wie Bilder. Aber sie konnte wohl spüren, dass die alte Frau log. Er hatte etwas Schlimmes gesagt, etwas Böses. Etwas, das bewies, dass er sie nicht mehr liebte. Da war Ondra sich ganz sicher. Etwas wie das, was er ihr am Nachmittag an den Kopf geworfen hatte.
Es schüttelte sie, wenn sie daran dachte, wie er zu ihr gewesen war. Damals hatte die Angst das erste Mal nach ihr gegriffen, die erste Ahnung, dass der liebevolle Schimmer in seinen Augen, das Gefühl der Übereinstimmung, nicht von Dauer wären, sondern so etwas wie das Wetter. Dass sie verschwinden könnten wie die Atemluft aus abgestandenem Wasser. Und dass sie zurückbleiben würde wie die sterbenden Fische in den Flutteichen, die es nicht zurück ins Meer schafften.
Ondra lachte traurig auf. Was für ein Vergleich. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper auf der Suche nach ein wenig Wärme. Aber warum war er am Telefon noch so anders gewesen? So warm,
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