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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Kopf geschlagen. Warum, frage ich mich und starre den Fetzen an, warum und wann ist sie in ihr Zimmer zurückgegangen? Was ist eigentlich los? Können die Erwachsenen sich, verflixter Mist, vielleicht wenigstens mal eindeutig benehmen? Sodass man irgendwann eine Chance hat durchzublicken?

Von einem Unsichtbaren im Haus und von zwanzig kleinen Seejungfrauen

    Meine Eltern nerven unsäglich. Als ob ich nicht schon genug eigene Probleme hätte! (Zum Beispiel, ob ich einfach bei Torsten aufkreuzen kann oder nicht.) Am Konservatorium sind jetzt die Jahresprüfungen und mein Vater kommt nie vor dem Abend nach Hause. Trotzdem joggt er jeden Morgen! Anstatt sich noch ein Stündchen zu meiner Mutter reinzukuscheln, haut er ab und hinterlässt Schweißklamotten und ein feuchtes Badezimmer. Am Abend fragt er dann zwanzigmal unauffällig, was so alles gewesen sei, ob jemand angerufen habe, was mit der Post gekommen sei … Manchmal hat er keinen Appetit und ein andermal schaufelt er verbissen in sich rein, was nur reingeht. Wenn er in der Diele am Telefon vorbeikommt, nimmt er den Hörer ab, drückt auf die Wiederholungstaste, schaut kurz hin und legt wieder auf.
    Bis ich endlich checke, was das soll! Ich hab es ein paarmal genauso gemacht und dann plötzlich alles kapiert: Im Display erscheint die Nummer, die jemand, meistens meine Mutter, vorher gewählt hat. Wenn die Nummer mit Null-Null-Vierundvierzig angeht, muss ich gar nicht weiterlesen, das ist England.
    Es kommt mir so vor, als wäre jemand Unsichtbarer im Haus. Und ich brauche nicht zu überlegen, wer das sein könnte. Obwohl kein Mensch mehr seinen Namen erwähnt.
    Was meine Mutter am Vormittag tut, weiß ich nicht. Mittags ist sie da, wenn ich aus der Schule komme. Sie isst mit mir einen Joghurt oder sonst was mit wenig Kalorien, wovon ich überhaupt nicht satt werde. Sie achtet unheimlich auf ihre Figur. Und bei mir ist sie der Meinung, ich muss jetzt aufpassen, dass mir der Speck nicht erhalten bleibt. Dazu guckt sie mich aber so lieb und mütterlich an, dass ich nicht patzig werden kann.
    Überhaupt ist sie jetzt oft außerordentlich sanft und weich, mit Augen, die ganz nah am Heulen sind, sodass man völlig verwirrt ist.
    Aus Frankreich sind Pressemeldungen von den Konzerten eingetroffen. Meine Mutter hat sie uns übersetzt und breitet sie häufig auf ihrem Bett aus. Anscheinend liest sie sie immer und immer wieder. Wenn sie am Flügel sitzt, spielt sie Schubert. Es ist mir schleierhaft, was sie daran noch üben will. Das Agenturfoto von Ken, das mein Vater während der Tournee weggeschafft haben muss, bleibt verschollen, und meine Mutter hat auch nicht danach gefragt, wenigstens mich nicht.
    Dafür liegt jetzt manchmal wie zufällig ein kleines Foto von Ken herum, auf dem Flügel, als wäre es aus Mamas Noten gerutscht, oder zwischen allerlei Zeug in der Küche, wo es eigentlich keinem aufzufallen bräuchte. Sogar auf dem Boden habe ich es mal entdeckt, halb unter den langen Vorhang geschoben. Ein paar Minuten später war es weg. Ich weiß schon, was da abläuft.
    Weil ich kein Bild von Ulrich besitze, muss ich mich mit seiner Handschrift begnügen. Ich trage mein Musikheft mit einer tollen Bemerkung von ihm mit mir rum und lege es ab und zu irgendwohin. Es springt mir dann sofort in die Augen, wenn ich an der Stelle, wo es liegt, vorbeikomme. Klar, das sollte es ja auch. So kann ich ständig an Ulrich denken, was sehr angenehm ist.
    Das Abendessen macht jetzt immer meine Mutter, weil mein Vater im Moment keine Zeit dazu hat. Sie gibt sich Mühe und erzählt beim Essen von ihren Einkäufen und ihren Missgeschicken beim Kochen, fragt meinen Vater nach irgendeinem Rezept und was man tun muss, damit die Sahne in der heißen Soße nicht gerinnt.
    Als gäbe es nichts Wichtigeres! Dabei kann ich beobachten, dass meine Mutter selbst fast nichts isst. Mit ihren Worten und Gesten lenkt sie davon ab, und wenn sie einen Bissen schluckt, muss sie den Kopf senken, als ginge der Brocken sonst nicht runter. In den kurzen Gesprächspausen wird ihr Blick ganz dunkel und verzweifelt. Sodass auch ich schon hektisch zu reden anfange, damit erst gar keine Pause entsteht.
    Nicht auszuhalten ist das.

    Heute Nachmittag ist das Vorsingen fürs Musical. Ausgerechnet heute, wo ich Torsten bei Oma treffen könnte! Aber da ist nichts zu machen.
    Ich bin ziemlich aufgeregt. Nicht wegen meiner Stimme, sondern weil ich nicht weiß, wer kommt und wie alles ablaufen wird. Von meiner Klasse

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