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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Lied von uns Mädchen hören.
    Prompt kriegt er wieder zwanzigmal die kleine Seejungfrau. Das Lied von der schönen Welt. Und reichlich wacklig, weil die meisten nur das Liebeslied richtig geübt haben. Nora hat fast überhaupt keine Stimme, ihre langen Locken und ihre blauen Augen sind verschenkt.
    Keine von uns hat die anderen weiblichen Rollen eingeübt. Ich schon, aber ich sage es nicht. Denn wenn Ulrich auch nur ein bisschen gerecht ist und sich nicht von langen Haaren und ähnlichem Zubehör täuschen lässt, wenn er einigermaßen funktionierende Ohren hat, gibt er mir die Titelrolle. Ich bin neben den Jungen die Einzige, die auch auf der Bühne kein Mikro brauchen wird, das ist ziemlich klar geworden. Also halte ich nach Ulrichs Frage schön den Mund und stelle mir die lange Perücke vor, die meine Mutter mir kaufen wird.
    Ulrich verdreht gequält die Augen. Er gibt zu, dass er ein dummer Anfänger ist und nicht mit zwanzig kleinen Seejungfrauen gerechnet hat. Aber er kann doch die Geschichte nicht umschreiben! Also sollen ein paar von uns, die er anschließend namentlich benennen wird, übermorgen noch einmal vorsingen. Und bitte alle weiblichen Rollen. Er sei sich auch bei der Besetzung der Titelrolle noch keineswegs ganz sicher.
    Zu den namentlich Genannten gehöre ich. Melinda ist nicht dabei. Nora auch nicht.

    Warum kann ich zu meiner Stimme nicht die Figur von Britta haben?
    Britta wird möglicherweise bald wie Britney Spears aussehen. Auch ohne die Pille. Aber sie will nicht mehr so lange warten, sondern die Sache ein wenig beschleunigen. Von der Pille nämlich, haben wir mal gelesen, soll Britneys Busen so gewachsen sein. (Dabei nimmt Britney die Pille nur deswegen, weil davon die Pickel vergehen, stand im Heft. Gute Ausrede!)
    Britta und ich haben daraufhin unsere Pickel gezählt. Zusammen brachten wir es auf siebenundsechzig, die zweiundsechzig Winzlinge auf Brittas Stirn mitgerechnet, die man nur bei bestimmtem Lichteinfall unterm Vergrößerungsglas sehen kann.
    Britta ist noch am selben Abend mit dem Heft zu ihrer Mutter gegangen und wollte mit ihr über die Pille reden. Ihr Pech war, dass Lukas lauschte. Er hat Britta gefragt, warum sie die Pickel auf ihrem Busen nicht einfach ausdrückt. Woraufhin Britta ihm eine scheuerte. Er solle ihr da mal einen einzigen Pickel zeigen, einen einzigen, und zwar dalli!
    Die Mutter von den beiden hat sich den Kopf gehalten und geschrien, dass man zu ihr gefälligst mit der Pille oder Ähnlichem erst kommen soll, wenn man aus dem Kindergartenalter raus sei. Jetzt wird Britta ihren kleinen Busen behalten, der für meinen Geschmack sowieso perfekt ist.
    Wenn ich also meine Stimme und die Figur von Britta hätte, wäre alles okay. So aber ist nichts in Ordnung. Ulrich hat mir nach dem zweiten Vorsingen die Rolle der alten Meerhexe gegeben. Und mir auch noch gesagt, dass er bei dieser Rolle von Anfang an an mich gedacht habe. Großartig! Schmeichelhaft! Wunderbar! Wahrscheinlich hatte er das Bild in Omas Buch vor Augen. Einfach toll! Wenn ich bis jetzt nicht gewusst habe, wie ich wirklich aussehe, nun weiß ich es. Jawohl. Wie eine gigantische, monströse, hässliche alte Meerhexe.
    Dafür, dass ich es jetzt weiß, sollte ich eigentlich dankbar sein. Ich muss meine Zeit nicht mehr mit Ulrich Falkenhauser vergeuden. Seine Handschrift in meinem Musikheft habe ich sofort mit einem gelben Zettel überklebt. Den kann man wieder abmachen. Aber ich glaube nicht, dass ich das will.

    Das zweite Vorsingen hat nicht lange gedauert. Denn ein Referendar namens U. Falkenhauser war sich vorher schon über die Besetzung seines Musicals im Klaren gewesen, wie er selbst sagte. Nicht von ungefähr habe er in den letzten zwei Monaten so häufig in den Klassen vorsingen lassen! Dazu hat er dreckig gegrinst.
    Schlaksi ist der Meerkönig geworden, Pummel der Prinz (ha, ha). Eine aus der Neunten namens Anna bekam die Rolle der Großmutter. Über die fünf schönen Schwestern kann ich weiter nichts sagen, als dass sie jünger sind als die kleine Seejungfrau. Dabei müsste doch die kleine Seejungfrau die Jüngste von allen sein! So steht es jedenfalls bei Hans Christian Andersen. U. Falkenhausers kleine Seejungfrau ist aber zwei bis drei Jahre älter als ihre älteren Schwestern. Sie heißt Regina und hat weder lange Haare noch blaue Augen. Sie ist so unscheinbar, dass sie mir beim Vorsingen gar nicht aufgefallen wäre, wenn nicht beim Liebeslied glitzernde Tränen in ihren farblosen Augen

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