Meerhexe
nehmen außer mir nun doch nur Melinda und Nora teil. Melinda singt gut und Nora hat langes Haar und blaue Augen wie die kleine Seejungfrau. Sie findet, das müsste genügen, weil die kleine Seejungfrau doch sowieso während des halben Musicals stumm ist.
Die anderen Mädchen haben uns ihre Noten mitgegeben. Es war ihnen zu kompliziert, lauter unbekannte Lieder und so. Ja, wenn was aus den Charts darunter gewesen wäre oder aus den Top Ten - da hätten alle mitgemacht! Denise hat es sich noch bis zuletzt überlegt. Aber weil Franziska nicht mehr wollte, gab sie mir schließlich doch auch achselzuckend die Noten mit.
Jetzt warten wir alle im Musiksaal auf Ulrich Falkenhauser, ungefähr zwanzig Mädchen aus verschiedenen Klassen und zwei Jungen. Von den Jungen ist der eine schlaksig und hässlich und der andere pummelig und hässlich. Der Pummelige und ich, wir wären das Traumpaar, wirklich! Er, der dicke Prinz, und ich, die fette Seejungfrau, großartig. Wir hätten bestimmt den tollsten Lacherfolg, den man sich denken kann.
Ich weiß plötzlich gar nicht mehr, was ich hier soll. Nora jammert uns ununterbrochen vor, wie nervös sie ist und dass sie ohne Nervosität wirklich gut singt, vor allem, wenn eine Kassette dazu läuft.
Melinda unterbricht sie und macht uns auf die beiden Jungen aufmerksam, als hätten wir die nicht schon längst entdeckt. Sie sehen übrigens aus wie zwei, die es sich jeden Augenblick anders überlegen könnten. Wenn Ulrich nicht bald kommt, sind sie weg. Sie nähern sich schon mit ziemlich klarer Absicht der offenen Tür.
Aber zu spät, Ulrich marschiert energisch um die Ecke und beschleunigt wie immer meinen Puls. Er fängt Schlaksi und Pummel mit ausgebreiteten Armen ein und erzählt ihnen, wie sehr er sich freut, dass sie gekommen sind. Schlaksi zuckt mit den Schultern und lässt den Kopf ein wenig hängen. Pummel kriegt rote Flecken über sein ganzes rundes Gesicht. Sie sind aus der Neunten und heißen nach Ulrichs Auskunft Lennart und Maximilian. Für mich bleiben sie Schlaksi und Pummel.
Ulrich bemerkt den Notenstapel auf einem Stuhl. »Oh«, sagt er fröhlich, »die sind zurückgegangen? Das macht es überschaubarer. Außerdem kann ich euch sagen, dass die Leute, die ich haben wollte, sowieso schon alle hier sind.« Zufrieden begibt er sich zum Flügel.
Zählt er mich zu denen, die er haben wollte? Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass er eine fette Seejungfrau will. Die anderen Mädchen sind alle viel hübscher. Und lange Haare habe ich auch nicht, noch nicht mal blaue Augen. Ach, Mist!
Ulrich beginnt mit Stimmbildungsübungen. Danach bittet er uns, ungeniert das Lied vorzutragen, das wir am liebsten mögen.
Nach dieser Aufforderung kriegt er zwanzigmal das Liebeslied der kleinen Seejungfrau geboten. Auch von mir. Immerhin kann ich all die hübschen Mädchen hier glatt an die Wand singen und muss mich dazu noch nicht mal anstrengen.
Ulrich lächelt mir hinterher zu und macht sich Notizen. Aber er sagt nichts. Außer dass er uns Mädchen später noch einmal hören will.
Dann beschäftigt er sich mit den Jungen. Sie müssen den Meerkönig und den Prinzen singen, obwohl sie beide behaupten, dass sie den Meerkönig schwer finden und noch nicht richtig geübt haben.
Aha, von den beiden will jeder der Prinz sein!
Schlaksi hat eine raue, tiefe Stimme mit viel Volumen, und sein Adamsapfel hüpft, dass wir uns das Kichern kaum verkneifen können. Nur mit geschlossenen Augen komme ich gegen den Lachreiz an. Ich bemerke aber auch, dass ich dabei Schlaksis lange Nase, seine Pickel, sein fliehendes Kinn und seinen komischen Adamsapfel mühelos vergesse. Denn seine Stimme, die ist echt gut.
Ulrich nickt wie einer, der es sowieso schon gewusst hat. Er bittet Pummel heraus. In Pummels Gesicht wechseln die roten Flecken ins Violette, als er neben dem Flügel steht. Dann öffnet er den Mund zum Singen.
Ich mache diesmal gleich die Augen zu, Pummels Flecken sind schon peinlich genug. Und reiße sie wieder auf - der hat ja eine Zauberstimme! Original wie ein wunderschöner Märchenprinz! So ein hässlicher, dicklicher Junge!
Als die Mädchen zu klatschen und zu trampeln anfangen, bin ich auch dabei. Ich bin ganz begeistert. Pummel verbeugt sich linkisch und ist jetzt wahrscheinlich bis zum großen Zeh hinunter violett.
Ulrich strahlt unverhohlen. Das hat er bei mir nicht getan, obwohl ich auch dick bin und gut singe. Er schaut seine Notizen an und will jetzt noch ein zweites
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