Meerhexe
da!
Unsere Nachbarn haben auch ihre Häuser verlassen. Es sind viel mehr Leute auf der Straße, als normalerweise hier wohnen. Besucher, natürlich! Dicht neben mir taucht jemand auf. Es ist Oma. Sie hält Onkel Bangemann an der Hand und sagt atemlos: »Wir haben es gerade noch geschafft. Wir wollten doch bei euch sein!« Ich freue mich sehr.
Leute bieten uns ihre Schutzbrillen an. Nur mal eben zum Durchgucken, denn die Sichel, die ist einfach unglaublich! Jeder redet auf einmal mit jedem. Eine ungeheure Spannung liegt in der Luft und prickelt wie die plötzliche Kälte.
Unsere Straße verläuft ungefähr in ostwestlicher Richtung, was geradezu ideal ist. Man kann entweder mit der Schutzbrille zum Sonnenstreifchen hinaufschauen oder aber in der anderen Richtung auf die Dunkelheit warten, die jeden Moment von Westen her anrollen muss.
Meine Mutter, mein Vater, Oma, Onkel Bangemann und ich stehen in einer Reihe nebeneinander und blicken angespannt nach Westen. Oma klammert sich an Onkel Bangemann, und mein Vater hat einen Arm um meine Mutter und den anderen um mich gelegt.
Das allgemeine Murmeln weicht schlagartig einer atemlosen Stille. Dann schreien die Leute auf und zeigen nach oben, wo die Sonne wahrscheinlich restlos verschwunden ist. Denn in dem Moment kommt die Dunkelheit angerast und überrollt uns. Das Unheimliche daran ist, dass es lautlos geschieht. Die Farben verlöschen, der Himmel wird eine hohe dunkle Kuppel, an der die Sterne hervorkommen. Es ist unglaublich und so schön, dass ich alles um mich herum vergesse.
Bis mein Vater leise sagt: »Jetzt könnt ihr in die Sonne schauen.«
Wir lassen uns los und ich drehe mich um. Am Himmel oben ist eine tiefschwarze Scheibe und um sie herum der sanfte Schimmer der Korona.
»Wahnsinn«, hauche ich. Nur einmal im Leben darf ich das sehen und für so kurze Zeit!
Ich spüre, wie Oma meinen Arm quetscht. Irgendwo läutet ein Telefon. Es ist unwirklich, ein sonst doch alltägliches Geräusch, und passt überhaupt nicht hierher. Es klingt richtig verloren und kein Mensch achtet darauf.
Mein Vater wird von einem aufgeregten Nachbarn bequasseIt, der sich die Schutzbrille nicht abzunehmen traut. Beim dritten Läuten geht mir auf, dass es unser Telefon ist, das man durch die offene Haustür bis auf die Straße heraus hört.
Dann ist es auch schon wieder vorbei. Ohne das entrückte Lächeln im Gesicht meiner Mutter würde ich denken, ich habe es mir eingebildet. Doch nun zähle ich eins und eins zusammen und mir vergeht alle Freude an der Sonnenfinsternis.
Mein Vater wendet sich von dem Nachbarn ab und fragt mich: »War das eben unser Telefon?«
Ich zucke voller Unbehagen mit den Schultern. Aber damit kann ich nicht verhindern, dass mein Vater im Gesicht meiner Mutter dasselbe entdeckt wie ich: glückliche Trance. Zwar hat er ihre Telefonhörerküsserei im Moment der Sonnenfinsternis über England nicht mitbekommen, aber vielleicht ist es die Spannung des Augenblicks, die ihn zum Hellseher werden lässt. Jedenfalls sackt mein Vater in den Schultern ein wenig nach vorn und sagt keinen Ton mehr. Er legt auch keinen Arm mehr um uns.
Meine Gänsehaut reicht bis ans Herz.
Dann wird es wieder hell. Die Leute reden begeistert durcheinander. Man kann jetzt über eine Stunde lang beobachten, wie der Mond allmählich die Sonne freigibt. Oma und Onkel Bangemann stehen mit irgendwelchen Nachbarn zusammen, lassen sich Brillen geben und tauschen ihre Eindrücke aus.
Mein Vater, meine Mutter und ich gehen ins Haus. Schön hintereinander. Keiner redet mit dem anderen. Meine Mutter schließt sachte ihre Zimmertür hinter sich. Mein Vater räumt seine Bücher weg, mehr sehe ich nicht, denn auch ich gehe in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett werfe und mir die Decke über den Kopf ziehe, damit mich niemand weinen hört.
Ich schluchze meine ganze Enttäuschung in die Matratze hinein. Ich bin so verzweifelt, dass ich überhaupt nicht mehr daran denke, hinauszugehen. Draußen steht jetzt vielleicht der Junge herum, der für mich bestimmt wäre, aber das ist mir egal. Denn das wahre Wunder, das wirklich wichtige Wunder, das wir von Mama erwartet haben, hat sich nicht ereignet. Ganz im Gegenteil.
Es läutet an unserer Tür. Meine Mutter macht nach einer Weile auf. Ich höre sie mit Oma und Onkel Bangemann reden und nach meinem Vater rufen. Als er nicht antwortet, ruft auch Oma: »Robert!«
Bevor sie womöglich in meinem Zimmer nachsehen kommen, renne ich ins Bad und wasche mir
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