Meerhexe
an.
Meine Mutter weigert sich, Aspirin zu schlucken. Als könnte sie meinen Vater herbeizaubern, indem sie ihre Kopfschmerzen tapfer erträgt. Sie habe früher eigentlich nie Kopfweh gehabt, erzählt sie Oma. Ihr Arzt sei der Ansicht, sie solle vielleicht mal eine Zeit lang nicht Klavier spielen und Konzerttermine besser verschieben. Sie redet leise. Ihre nächsten Termine seien sowieso erst im Dezember. Soloabende, Beethoven.
»Was macht Kenneth Smith jetzt?«, fragt Oma vorsichtig. »Hattest du mit ihm zusammen nicht auch wieder eine Konzertreihe geplant?«
Meine Mutter zuckt unmerklich zusammen. »Erst im Frühjahr«, sagt sie und schluckt. »Er will den Winter über ein Studiensemester in New York einschieben.«
Das mit dem Studiensemester habe ich nicht gewusst. Von Ken ist ja nie mehr die Rede gewesen. Er bewohnt zwar unser Haus als Geist, aber gesprochen wird nicht über ihn.
New York, finde ich, ist erfreulich weit weg. Doch habe ich das nicht auch schon mal von England gedacht und dabei das Telefon vergessen? Zwischen London und New York ist, so gesehen, überhaupt kein Unterschied. Trotz des riesengroßen Atlantiks.
Ich denke an meinen Vater und der plötzliche Zorn auf meine Mutter nimmt mir schier die Luft. Ich gönne ihr die Kopfschmerzen, und Ken wünsche ich einen Blitz, der ihn treffen soll.
Onkel Bangemann hat als Einziger eine kleine Bresche in die Schnittchen geschlagen. Als Oma sich endlich zum Gehen entschließt, scheint er sehr erleichtert zu sein. An der Tür legt er eine Hand auf meinen Arm und die andere auf den Arm meiner Mutter. »Ich habe auch manchmal das Bedürfnis, allein zu sein. Gerade nach einem tiefen Erlebnis.« Er schenkt uns einen bemüht aufmunternden Blick, ehe er uns loslässt.
»Ihr ruft mich sofort an?«, vergewissert sich Oma ein letztes Mal. Dann schließt sich endgültig die Tür hinter ihr.
Als die beiden weg sind, stehen meine Mutter und ich uns kraftlos in der Diele gegenüber. Sie versucht keine Sekunde lang, mir mit irgendeiner fadenscheinigen Erklärung zu kommen. Das rechne ich ihr hoch an. Sie hält mich nicht für ein Dummchen.
»Was sollen wir tun, Madeleine?« Sie beißt sich auf die bebenden Lippen.
Ich kann es nicht mitansehen, wie ihr die Tränen in die Augen springen. »Den Tisch abräumen?«, schlage ich vor und kämpfe gegen meine eigenen Tränen. Mein Zorn ist schon wieder verraucht. An seiner Stelle ist jetzt ein tiefes Loch von Angst und Traurigkeit.
Wir ziehen eine Folie über die Schnittchenplatte und lassen sie neben der Kaffeekanne auf dem Tisch stehen. Ablenkung wäre jetzt vielleicht das Beste. Ich mache den Fernseher an und lege ein Video ein. Dann stehe ich noch einmal auf und hole zwei Eisbeutel für die Schläfen meiner Mutter.
Dass sie keine Tabletten nehmen will, verstehe ich gut. Sie bringt ein Opfer, genau wie ich. Sie akzeptiert die Kopfschmerzen und ich den Hunger. Ich würde jetzt nämlich am liebsten die Schnittchenplatte leer fressen, tue es aber nicht. Ich verzichte darauf, indem ich mir einrede, dass wir später alle gemeinsam über die Platte herfallen werden, Papa, Mama und ich.
Nach fünf Stunden Fernsehen kann man irgendwann nicht mehr. Vor allem wenn man dabei ständig auf das Telefon, das Garagentor und die Haustür gelauscht hat. Es ist furchtbar. Ich ersticke schier an der Beklemmung. Meine Mutter wahrscheinlich auch, mühsam holt sie von Zeit zu Zeit Luft.
Endlich beschließen wir, uns schlafen zu legen. Das Außenlicht und das Dielenlicht lassen wir brennen. Meine Mutter bittet mich mit tonloser Stimme, Oma noch eben Bescheid zu sagen, dass sich bisher nichts getan hat, dass wir sie aber auf jeden Fall, egal zu welcher Zeit, anrufen werden.
Ich würde ja am liebsten ins Bett meines Vaters kriechen, als könnte ich ihn dadurch herbeiwünschen. Aber ich traue mich nicht. Sollte das nicht eher meine Mutter tun? Wenn sie selbst auf den Gedanken kommt und mich dann an ihrem Platz vorfindet
Ich erledige den Anruf. Als Mama und ich uns Gute Nacht sagen, schauen wir uns nur sehr kurz und befangen an. Obwohl wir beide wahrscheinlich genau dieselbe Angst haben, steht etwas Unaussprechliches zwischen uns.
Danach liege ich wach im Bett. Ich kann und kann nicht einschlafen. Wenn ich es könnte, da bin ich mir sicher, würde mein Vater bestimmt zurückkommen. Denn die Dinge passieren doch nie, wenn man auf sie wartet, sondern genau dann, wenn man es nicht tut.
Ich höre meine Mutter ein paar Mal aufstehen und leise
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