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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Katz.
    Schuld daran ist mein Vater. Und mein Zeugnis auch. Es ist schlechter ausgefallen als sonst. Letztes Jahr bin ich noch Jahrgangsbeste gewesen und diesmal hat es nicht mal zur Klassenbesten gereicht. Hat man da vielleicht Lust, ein neues Leben zu beginnen? Noch dazu ganz allein?
    Allein deswegen, weil mein Vater das Joggen eingestellt hat. Ausgerechnet jetzt hört er auf, wo ich nun doch jeden Tag mitgelaufen wäre!
    Er erzählt uns bei jeder Gelegenheit, er habe Schluss gemacht mit dem sinnlosen Gestrampel, es bringe ja doch nichts. Er plustert sich auf und lauert dabei garantiert auf einen Einspruch meiner Mutter. Etwa dass ihr seine Figur nicht gleichgültig sei und er sich doch weiter bemühen solle, dass er nur etwas Geduld haben müsse …
    Ein solcher Einspruch kommt aber nicht. Meine Mutter schluckt ein Aufbaumittel, das ihr der Arzt verschrieben hat, und spielt Schubert. Für meinen Vater interessiert sie sich überhaupt nicht - das ist allmählich mein Eindruck. Papa will es nur nicht wahrhaben.
    Er fängt wieder an zu kochen wie ein Weltmeister. Oder wie einer, der irgendwas tun muss, um nicht verrückt zu werden. Wenn meine Mutter abends Kopfweh hat, kommt er mit seiner Weinflasche zu mir. Wir hängen rum und gucken fern. Wir können uns nicht mal zu einem Spaziergang aufraffen, von Joggen gar keine Rede.
    Auch mein neuer Ernährungsplan klappt nun nicht mehr. Ganz ehrlich, wie soll ich freiwillig Joghurt essen, wenn mein Vater jeden Tag ein neues fantastisches Gericht auf den Tisch bringt? Er denkt wahrscheinlich, mit Essen kann er meine Mutter aus ihrer komischen Abwesenheit rauslocken. Bisher ist aber nichts davon zu merken.

    Verbissen warte ich auf die Sonnenfinsternis. Ich gucke mir alle Fernsehsendungen dazu an und lese sogar die Tageszeitung.
    Bei schönem Wetter wird die totale Sonnenfinsternis auf einem gut hundert Kilometer breiten Streifen zu sehen sein. Ein kosmischer Zufall macht sie möglich. Weil nämlich die Sonne vierhundertmal größer ist als der Mond und gleichzeitig vierhundertmal weiter von der Erde entfernt, scheinen die beiden bei einer bestimmten Konstellation von der Erde aus gleich groß zu sein, sodass der Mond die Sonne verdecken kann. Dadurch entsteht ein hundertundzehn Kilometer breiter Kernschatten. Der soll am elften August vom Nordatlantik her kommend Südengland und Nordfrankreich überqueren, dann bei uns eintreffen und im Dreitausend-Stundenkilometer-Tempo weiterrasen in Richtung Türkei bis nach Indien.
    Fantastisch! Je besser ich mich informiere, desto mehr packt es mich. Ich freue mich echt darauf. Zweieinhalb Minuten lang soll es bei uns dunkel werden und am Himmel werden die Sterne erscheinen. Und das mitten am Tag. Da bekommt man ja schon Gänsehaut, wenn man es sich nur vorstellt!
    Einmal - das war lange vor Christi Geburt - hat eine Sonnenfinsternis zwei Krieg führende Armeen so erschreckt, dass sie angeblich sofort die Waffen niederlegten und Frieden schlossen. Aber nicht genug damit: Sie haben den Frieden mit einer Doppelhochzeit besiegelt.
    Wozu eine Sonnenfinsternis alles imstande sein kann! Da darf ich doch für mich wenigstens mit einem klitzekleinen Wunderchen rechnen, oder nicht? Dass zum Beispiel unter den vielen Sonnenfinsternistouristen ein netter Junge ist, so hübsch wie Torsten, aber kein digitaler Busenidiot. Der läuft mir dann während der plötzlichen Dunkelheit über den Weg und sieht darin ein Zeichen, wie ich auch. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?
    Falls aber doch, so will ich damit zufrieden sein, wenn meine Mutter meinem Vater die Arme um den Hals legt und ihm was ins Ohr flüstert: »Alles ist wieder in Ordnung« oder so ähnlich. »Ich liebe dich, Robert. Ich habe in Wirklichkeit immer nur dich geliebt, in diesem Moment weiß ich es wieder.«
    Ja, das wünsche ich mir vor allem. Und wenn ich mich für eins der beiden Wunder entscheiden muss, dann will ich die Liebe zwischen meinen Eltern wählen. So selbstlos bin ich. Insgeheim hoffe ich aber, dass das Jahrhundertwunder nicht kleinlich sein wird. Dass auch für mich ganz privat was dabei abfällt.
    Unter solchen Wachträumen klappere ich die Stadt von vorn bis hinten nach einer Schutzbrille ab. Im Juli hat man sie noch überall bekommen. Doch jetzt, Anfang August, sind die Dinger restlos ausverkauft. Mein Vater telefoniert deswegen herum, ebenfalls ohne Erfolg.
    Meine Mutter erwartet die Sonnenfinsternis auf ihre eigene verträumte Art. Brille oder nicht Brille scheint

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