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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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das Gesicht. Kaltes Wasser soll ja gut sein gegen verquollene Augen, aber schnell wirkt es nicht. Ich nehme den Puder meiner Mutter und setze noch meine Sonnenbrille auf. So gewappnet lasse ich mich blicken. Ich entschuldige mich für die Sonnenbrille und behaupte, ich hätte wohl doch eine Sekunde lang ungeschützt in die Sonnensichel geguckt, denn jetzt seien meine Augen ein wenig lichtempfindlich.
    »Ist es schlimm?«, forscht Oma beunruhigt.
    »Nein, nein, sie brennen nur ein wenig.«
    Oma lässt sich täuschen. »Aber wenn es nicht aufhört, musst du zum Doktor!« Ich winke ab.
    Dann warten wir alle im Wohnzimmer auf meinen Vater, der unserer Meinung nach noch einmal auf die Straße gegangen sein muss. Wir erzählen uns gegenseitig, was wir bei der Sonnenfinsternis empfunden haben. Zwei von uns lügen dabei, indem sie das Wesentliche auslassen und das andere überschwänglich schildern. Eine davon bin ich.
    Mein Vater kommt und kommt nicht. Auf einmal hören wir das Garagentor zuschwingen (es quietscht ein wenig) und den Wagen wegfahren.
    »Nanu?«, sagt Oma, die sich mit den Geräuschen bei uns gut auskennt.
    Meine Eltern sagen nicht jedes Mal Bescheid, wenn sie für eine kurze Besorgung das Haus verlassen. Aber in dem Moment ist es sehr eigenartig, dass mein Vater wegfährt, ohne etwas zu sagen. Und auch wieder nicht, wenn man gesehen hat, was ich gesehen habe.
    Meiner Mutter gefriert das freundliche Lächeln. Durch meine Brille ist ja alles fahl, aber nichts ist so geisterhaft wie ihr Gesicht.
    »Hat Papa was gesagt, Madeleine?«, fragt sie mich.
    Ich schüttle verstört den Kopf. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ob nichts wäre. Sogar Onkel Bangemann, der nicht direkt zur Familie gehört, merkt, dass da was nicht stimmt. Er sucht trotzdem nach simplen Erklärungen für das Verschwinden meines Vaters. Meine Mutter hört ihm nur scheinbar zu. Mitten in seiner Rede steht sie auf und geht hinaus, kommt aber einen Moment später wieder zurück, sichtlich erleichtert.
    »Wenigstens hat er keine Reisetasche mitgenommen.« Sie versucht zu lächeln.
    Da packt mich der Schreck erst richtig. Wenn mein Vater Gepäck mitgenommen hätte, würde das bedeuten...
    Oma schaut zwischen meiner Mutter und mir hin und her. »Wolltet ihr nicht morgen in Urlaub fahren?«
    »Eigentlich ja...« Ich nicke geistesabwesend.
    Oma denkt eine Weile nach. »Wenn etwas passiert ist und ihr darüber reden möchtet...« Sie hebt hilflos die Hände.
    Meine Mutter schweigt erst mal. Sie dreht fahrig ihren Ehering am Finger und sagt schließlich unbestimmt: »Der Urlaub … ja, sicher. Wir haben nur die Sonnenfinsternis abgewartet...«
    Alles, was herauskommt, wenn wir drei den Mund aufmachen, endet irgendwo verloren.
    Onkel Bangemann wird es unbehaglich. Er bewegt zuerst die Beine, dann die Arme und räuspert sich. »Also«, beginnt er, »also, da können wir wohl im Moment nichts tun...« Auch er ist nun schon infiziert.
    Endlich nimmt Oma die Sache in die Hand. »Alicia? Madeleine? Habt ihr eigentlich schon was gegessen?« Unser Kopfschütteln ermutigt sie. Sie klatscht entschlossen auf ihre Armlehnen und erhebt sich. »Es ist jetzt gleich zwei. Wie sieht’s aus? Machen wir uns gemeinsam was? Eine Kanne Kaffee … bis dahin ist Robert vielleicht zurück - ich hab’s! Er holt Kuchen!«
    Das würde meinem Vater ähnlich sehen. Aber ich glaube nicht daran. Nicht nach dem, was ich erlebt habe.
    Was habe ich eigentlich erlebt? Für einen Außenstehenden wäre es nichts Erkennbares gewesen. Aber ich bin dazu verdammt, meinem inneren Wissen zu trauen.

    Irgendwann im Laufe des Nachmittags räumt auch Oma ein, dass mein Vater, falls er Kuchen kaufen wollte, dazu vermutlich nach Hamburg gefahren ist. Uns allen ist der Hals zugeschnürt. Die schönen Schnittchen, die wir gemeinsam belegt haben, trocknen vor sich hin. Meine Mutter fasst sich immer häufiger an die Schläfen. Wenn sie den Mund aufmacht, um was zu sagen, zittern ihre Lippen.
    Oma fragt nicht mehr, ob etwas passiert ist. Nachdem wir alle überlegt haben, ob wir bei Bekannten herumtelefonieren oder uns auf die Suche machen oder die Polizei alarmieren sollen, kommen wir zu dem Schluss, dass wir überhaupt gar nichts tun können. Mein Vater ist ein erwachsener Mann, der das Recht hat davonzufahren und wieder zu kommen, wenn ihm danach zumute ist.
    Wir sitzen herum. Ich habe längst die lästige Sonnenbrille abgelegt. Auf ein Paar verräterisch roter Augen kommt es nun auch nicht mehr

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