Meerhexe
bedeutet es schon?«, maule ich.
Mein Vater läuft nervös herum, von drinnen nach draußen, den Himmel begucken, und wieder herein. Den Wetterbericht verfolgt er auf allen Sendern im Rundfunk und am Fernsehen. Immer wieder streift sein Blick dabei wie aus Versehen meine so merkwürdig ruhige Mutter, die sich von seiner Hektik überhaupt nicht anstecken lässt. Gerade mal dass sie gehorsam auf dem Globus die schmale Bahn des Kernschattens mit dem Finger nachfährt. Ich sehe sie dabei versonnen lächeln.
Mein Vater scheint sich selbst und uns davon überzeugen zu wollen, dass seine Aktivitäten nichts weiter bedeuten als wissenschaftliches Interesse, abergläubisch ist er bestimmt nicht. Er schleppt Bücher an und zeigt uns die einzelnen Phasen der Sonnenfinsternis in Schaubildern. Aber seine Blicke verraten ihn. Auch er erwartet sich mehr von dem Spektakel. Und zwar, das ist mir ganz klar, erwartet er es von meiner Mutter.
Im Fernsehen werden sonderbare Typen vorgeführt, die beten oder sich geißeln oder furchtbare Katastrophen vorhersagen. In ganz Europa stehen entlang des Kernschattens Kameras, die Live-Übertragungen bringen wollen. Und über den Wolken kreisen Flugzeuge mit derselben Absicht. Wir kriegen Unmengen von Menschen zu sehen, die aus ihren Regenkapuzen und unter ihren Schirmen hervor den Himmel beobachten. In Gegenden, wo noch etwas Blau durchblitzt, tragen die Leute ihre komischen viereckigen Schutzbrillen und zeigen aufgeregt hinauf. Aber wenn die Sonne sich überhaupt zeigt, ist sie auch gleich wieder von Wolken bedeckt.
Nur die Flugzeugkameras filmen ungehindert. Alle paar Minuten wird uns ein makelloses Bild eingeblendet. Die gute alte Sonne sieht inzwischen aus wie ein abnehmender Mond (nur andersrum) und verwandelt sich allmählich in eine schmale Sichel.
Dann ist es so weit. Unsere Fernsehsender schalten sich in England und Frankreich zu. Und während bei uns gerade ein Regenguss niederprasselt, beginnen in England die zweieinhalb Minuten der totalen Phase. Der Bildschirm wird dunkel. Wir sehen fast nichts mehr, sondern hören nur noch die Rufe der Menschen. Die Flugzeugkamera über England filmt eine ganz unwirkliche Sonne, die wie von einer schwarzen Pappscheibe bedeckt ist, mit einem hellen Schimmer außen rum.
Als die deutsche Reporterin vor Ort sagt: »Es ist unglaublich! Dunkelheit senkt sich über das Land, Menschen fallen auf die Knie...«, steht meine Mutter leise auf und geht in die Diele hinaus.
Mein Vater guckt für eine Sekunde vom Bildschirm weg. »Alicia! Wo gehst du denn jetzt hin?«, ruft er entgeistert. »Du versäumst ja alles!« Er ist hin- und hergerissen zwischen dem Fernseher und meiner verschwundenen Mutter. Als ich an seiner Stelle aufstehe, nickt er mir dankbar zu.
Ich finde meine Mutter über das Telefon gebeugt. Sie hat den Hörer in der Hand und wählt. Danach atmet sie tief ein, lehnt sich an die Wand und schließt die Augen. Sie drückt den Hörer an ihre Wange, lächelt, berührt dann mit ihren Lippen zärtlich die Sprechmuschel und legt wieder auf, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Mir gelingt gerade noch rechtzeitig der lautlose Rückzug. Meine Mutter kommt und setzt sich wieder in ihren Sessel, als sei nichts gewesen, als hätte sie nur eben kurz mal am Küchenfenster den Himmel geprüft. Sie beantwortet den fragenden Blick meines Vater mit einem knappen Lächeln. Danach starrt sie auf den Fernseher, bis man dort wieder etwas sieht.
Plötzlich wird es draußen strahlend hell und die letzten Tropfen fallen. Ich vergesse, was ich soeben in der Diele beobachtet habe. Begeistert springe ich auf. Am Himmel hinter dem Fenster sind blaue Felder, die immer größer werden! Mit ein wenig Glück … Mein Vater flucht jetzt wütend wegen der fehlenden Schutzbrille.
»Ist doch egal«, sage ich und drücke die Daumen, damit uns das Wolkenloch erhalten bleibt, das sich da wunderbarerweise über uns aufgetan hat.
Wir gehen auf die Straße, gleich wird es so weit sein. Es ist auffallend kalt draußen, aber sehr hell. Ein paar weiße Wölkchen ziehen über uns hinweg, sonst ist der Himmel blau. Ich staune darüber, dass die Sonne, die angeblich nur noch eine schmale Sichel ist, volles Licht geben kann. Es kostet mich größte Beherrschung, sie mir nicht anzusehen.
Meine Mutter weicht dem Arm meines Vaters aus und läuft noch einmal zurück. Ich sehe, wie sie die angelehnte Haustür weit öffnet, als sollte noch jemand nachkommen. Dabei sind wir doch schon alle
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