Meerhexe
ich am Info-Computer im Vorraum herum und gewöhne mich zähneknirschend an den Gedanken, dass mein aufregender Urlaub offensichtlich nicht mit der Fahrt, sondern mit der Ankunft beginnt. Wenn ich erst mal in Kiel bin!
Ein Wunder wäre keins, wenn man es vorhersehen oder planen könnte. In Hannover, wo ich mich seelisch bereits aufs Umsteigen in Hamburg vorbereite, drängen nämlich mit Getöse vier Jungen in den Wagen. Ich kann ein Stück weit ihren Weg durch den ICE verfolgen und ihre vergebliche Suche nach vier Sitzplätzen. Schließlich landen sie wieder bei mir, wo sie sich schon einmal mit ihren Rucksäcken vorbeigezwängt haben. Ich tarne meine Freude hinter einem mitfühlenden Blick.
Einer der Jungen meint: »Du hast garantiert auch keine Platzreservierung?« Er redet mit mir! Das Wunder nimmt seinen Lauf!
Wer keine Platzreservierung hat, steht hier rum, wo interessante Leute vorbeikommen. Warum ist mir das nicht schon vor Stunden eingefallen? »Rate mal«, antworte ich aufgedreht.
»Dachte ich mir.«
Die Jungen sind im richtigen Alter, vielleicht fünfzehn oder so, und haben einen lustigen Dialekt, so einen wie der Sprecher im Schweizer Fernsehen. Das Beste an ihnen ist, dass sie beschließen, sich hier häuslich niederzulassen. Sie stellen bereits ihre Rucksäcke ab.
Einer, der Kevin heißt, macht mich auf etwas aufmerksam: »Du, ein Platz wäre da drin aber frei!« Damit zeigt er über seine Schulter zu einem mir wohlbekannten Sitzplatz.
»Du kannst ihn haben, es ist meiner«, gebe ich zurück und freue mich an seiner Überraschung. Fühlt sich gut an, ein kleines Biest zu sein. Auch wenn das Herz dabei klopft.
»Hast du nicht gesagt...«
Ich schüttle unschuldig den Kopf. »Im Gepäckfach darüber ist ein Rucksack. Der gehört mir.«
»Warum sitzt du dann nicht dort?«
»Aus Solidarität?«, überlege ich laut.
Kevin lacht anerkennend, die anderen mustern mich interessiert, und ich bin sehr froh, dass mir so eine gute Antwort geglückt ist. Schließlich, irgendwas muss man ja haben, wenn man schon mit meiner Figur gestraft ist.
Ich werde übermütig und schlage vor, dass die Jungen eigentlich alle ihre Rucksäcke auf meinem Sitz stapeln könnten, dann wäre hier mehr Platz.
Sie machen es.
Die gediegenen Herren wundern sich, als unter meiner Regie das ganze Gepäck ihnen gegenüber landet. Ich bekomme den ersten richtigen Blick von ihnen. Danach öffnen sie den Mund, um sich zu beschweren.
»Kann nichts passieren, alles gut verkeilt«, kommt ihnen Kevin liebenswürdig zuvor. Wir machen uns davon und lassen uns am Boden im Vorraum nieder.
Die Jungen sind aus Basel. Sie haben dieses Ferienticket, mit dem man beliebig viele Fahrten durch ganz Deutschland machen kann.
Die Städte am Rhein liegen schon hinter ihnen. Nun haben sie sich Hannover angesehen und wollen weiter nach Hamburg und von dort noch kurz nach Berlin, ehe es in einer Nachtfahrt zurückgeht. Bernd und Jossi finden, Hamburg sei die ultimative Stadt, sie wollen in Hamburg bleiben, und das muss ein Witz zwischen den beiden sein, denn sie lachen sich schief darüber.
Wie ich sie beneide! Aus dem Benehmen meines Vaters heute Morgen zu schließen, darf ich an so was noch lange nicht denken. Ich muss schon damit zufrieden sein, dass man mir diese Fahrt zu Opa und Oma zutraut. Was ich natürlich für mich behalte. Dafür fange ich an, wie ein Reiseführer von Kiel zu reden. Wenn ich überzeugend genug bin, disponieren die Jungen vielleicht um. In Berlin werden sie schließlich von keinem erwartet.
Kevin gefällt mir am besten. Aber dann doch nicht mehr. Ich meine - ich weiß nicht. Johannes, der am wenigsten sagt und am sparsamsten lacht, verdrängt ihn allmählich von Platz Nummer eins und behauptet sich dort. Wie er schaut, wie er manchmal den Kopf in den Nacken wirft.
Ich bin drauf und dran, mich in Johannes zu verlieben, und kann schon kaum mehr in seine Richtung gucken, ohne zu stottern, als eine muntere Stimme im Lautsprecher Hamburg ankündigt.
Ich fahre zusammen und werde hektisch. Gleich zwölf Uhr - wie kann die Zeit nur so schnell verfliegen? Und warum hab ich nicht längst vom Laden meiner Großeltern berichtet und die Adresse bekannt gegeben? Das hole ich nun aufgeregt nach.
Die Jungen hören mir zu, aber eigentlich wollen sie jetzt zu ihren Rucksäcken.
»Leicht zu merken, Dänische Straße«, wiederhole ich drängend. Ich muss es riskieren, dass sie mich für eine Plage halten. Nicht auszudenken, wenn sie wirklich
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