Meerjungfrau
er nicht bleiben. Er musste sie treffen, bevor er den Mut verlor.
Er ging ins Schlafzimmer, um sich etwas anzuziehen. Was, spielte überhaupt keine Rolle, das war nicht mehr wichtig. Er ging die Treppe hinunter, nahm die Jacke vom Bügel und warf einen letzten Blick ins Haus. Still und dunkel. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür abzuschlieÃen.
Während des kurzen FuÃwegs blickte er zu Boden. Er wollte niemanden ansehen und mit niemandem reden. Er musste sich auf sein Vorhaben konzentrieren. Auf sie, der er begegnen würde. Seine Handflächen juckten wieder, aber das nahm er kaum noch wahr. Sein Gehirn schien die Kommunikation mit dem restlichen Körper abgeschaltet zu haben. Der war jetzt überflüssig. Wichtig waren nur noch die Dinge in seinem Kopf, die Bilder und Erinnerungen. Er lebte nicht mehr in der Gegenwart. Sah nur noch die Vergangenheit, wie einen Film, der langsam an ihm vorüberzog, während der Schnee unter seinen FüÃen knirschte.
Auf dem schmalen Pfad nach Badholmen wehte ein leichter Wind. An seinem Zittern merkte er, dass er fror, aber er spürte die Kälte nicht. Der Ort war verlassen. Es war dunkel und still, und weit und breit war niemand zu sehen. Ihre Anwesenheit nahm er trotzdem wahr. Das hatte er immer gekonnt. Hier würde die Schuld beglichen werden. Es gab keinen anderen Ort. Vom Sprungturm aus hatte er sie im Wasser gesehen, und es war ihm nicht entgangen, wie sie die Arme nach ihm ausstreckte. Nun kam er zu ihr.
Als er an dem Holzhaus vorbeikam, das den Eingang zur Badestelle markierte, lief der Film in seinem Kopf auf einmal schneller. Die Bilder erfüllten ihn mit dem Gefühl, ein Messer schlitze ihm den Bauch auf, so groà und scharf war der Schmerz. Er zwang sich, ihn zu ignorieren und nach vorne zu schauen.
Als er den Fuà auf die erste Stufe der Leiter stellte und das Holz sich unter seinem Gewicht bog, konnte er leichter atmen. Es gab kein Zurück mehr. Während des Aufstiegs blickte er nach oben. Die Stufen waren vom Schnee rutschig geworden, und er musste sich am Geländer festhalten, während er in den schwarzen Nachthimmel starrte. Keine Sterne. Er hatte keine Sterne verdient. Auf halbem Wege wusste er, dass sie ihm folgte. Er sah sich nicht um, aber er hörte ihre Schritte. Der gleiche Rhythmus, das gleiche Federn der Schritte. Jetzt war sie hier.
Als er auf dem obersten Sprungbrett angelangt war, zog er aus der Tasche das Seil, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Das Seil, das sein Gewicht tragen und die Schuld begleichen würde. Sie wartete auf der Treppe, während er alles vorbereitete. Er machte eine Schlaufe und einen Knoten und befestigte das Seil am Geländer. Einen Moment lang wurde er unsicher. Der Turm war alt und klapprig und das Holz von Wind und Wetter morsch. Was, wenn er nicht hielt? Ihre Anwesenheit beruhigte ihn. Sie würde nicht zulassen, dass er scheiterte. Nicht, nachdem sie so lange gewartet und jahrelang ihren Hass genährt hatte.
Als er fertig war, wandte er der Treppe den Rücken zu und heftete den Blick auf die Silhouette von Fjällbacka. Erst als er sie direkt hinter sich spürte, drehte er sich um.
Ihre Augen strahlten nicht vor Freude. Nur von dem Wissen, dass er nach allem, was passiert war, endlich bereit war, für sein Verbrechen zu büÃen. Sie war genauso schön wie in seiner Erinnerung. Ihr Haar war nass, und er wunderte sich, dass es in der Kälte nicht zu Eis gefror. Doch nichts an ihr war so, wie man es erwartete. An einer Meerjungfrau war alles anders als erwartet.
Bevor er sich auf das Meer zubewegte, sah er ein blaues Kleid im Sommerwind flattern.
»Wie geht es dir?«, fragte Erica, als Patrik ganz verstrubbelt herunterkam.
»Nur ein bisschen müde«, antwortete Patrik, doch sein Gesicht war blass.
»Wirklich? Du siehst gar nicht gut aus.«
»Danke. Das hat Paula auch gesagt. Könnt ihr nicht mal aufhören, mir zu erzählen, wie mies ich aussehe? Das deprimiert mich allmählich.« Er lächelte, wirkte aber noch immer nicht richtig wach. Er beugte sich hinunter und fing Maja auf, die auf ihn zurannte.
»Hallo, meine SüÃe. Du findest doch bestimmt, dass Papa toll aussieht. Ist Papa nicht der schönste Mann auf der Welt?« Er bohrte ihr den Finger in den Bauch, bis sie kicherte.
»Hm«, nickte sie altklug.
»Gott sei Dank, endlich jemand mit gutem Geschmack.« Er drehte sich zu Erica um
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