Meerjungfrau
nicht angerufen. Noch hatte sie sich keinen Plan ausgedacht, wie sie ihm von ihrem Ausflug heute erzählen sollte. Es war jedoch notwendig, weil sie ihm so schnell wie möglich die Zeichnungen geben musste. Irgendetwas sagte ihr, dass sie wichtig waren und in die Hände der Polizei gehörten. Vor allem mit Christian mussten Patrik und seine Kollegen darüber reden. Tief im Innern hätte sie es am liebsten selbst getan, aber ihre Fahrt nach Göteborg war schon schlimm genug gewesen. Sie durfte Patrik nicht noch einmal hintergehen.
Als sie vor dem Haus einparkte, sah sie im Rückspiegel ein Polizeiauto. Warum benutzte Patrik nicht seinen eigenen Wagen? Sie nahm gerade Majas Kindersitz von der Rückbank, als das Auto neben ihr hielt. Erstaunt sah sie, dass nicht Patrik, sondern Paula am Steuer saÃ.
»Hallo. Wo hast du Patrik gelassen?« Erica watschelte auf sie zu.
»Er ist zu Hause.« Paula stieg aus. »Er war so müde, dass ich ihm Ruhe verordnet habe. Ich habe zwar meine Befugnisse überschritten, aber er hat mir immerhin gehorcht.« Ihr Lachen täuschte nicht über die Besorgnis in ihrem Blick hinweg.
»Ist etwas passiert?«, fragte Erica. Angst überkam sie. Soweit sie sich erinnern konnte, war Patrik noch nie aufgrund von Erschöpfung früher nach Hause gekommen.
»Nein. Ich glaube, er hat in letzter Zeit einfach zu viel gearbeitet. Wirkt ein bisschen kaputt. Deshalb habe ich ihn davon überzeugt, dass er niemandem nützt, wenn er sich nicht ein bisschen ausruht.«
»Und das hat er akzeptiert? Einfach so?«
»Wir haben einen Kompromiss geschlossen. Er hat eingewilligt, weil ich im Gegenzug versprochen habe, ihm die Ermittlungsakte zu holen. Ich wollte die Unterlagen nur schnell in den Hausflur legen, aber nun kannst du sie ja mitnehmen.« Sie überreichte Erica eine Papiertüte.
»Das klingt schon eher nach Patrik.« Erica war ein wenig beruhigt. Wenn die Arbeit ihn nicht loslieÃ, war er zumindest einigermaÃen gesund.
Sie bedankte sich bei Paula und schleppte die Tüte ins Haus. Maja hüpfte hinter ihr her. Erica lächelte, als sie den Zettel sah, den Patrik ihr auf die Kommode gelegt hatte. Wahrscheinlich wäre sie tatsächlich zu Tode erschrocken, wenn sie plötzlich von oben ein Geräusch gehört hätte, ohne zu wissen, dass Patrik zu Hause war.
Maja fing vor Wut an zu schreien, weil sie sich die Schuhe nicht alleine ausziehen konnte. Erica brachte sie schnell zum Schweigen.
»Nicht so laut, meine SüÃe. Papa schläft. Wir dürfen ihn nicht aufwecken.«
Maja riss die Augen auf, legte den Finger an die Lippen und machte: »Pst!« Sie blickte zur Treppe. Nachdem Erica ihr Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, raste sie ins Wohnzimmer zu ihren Spielsachen.
Erica schälte sich ebenfalls aus ihrer Jacke und keuchte ein wenig in ihrem dicken Pullover. In letzter Zeit schwitzte sie ständig. Da sie eine tiefe Abneigung gegen SchweiÃgeruch hatte, wechselte sie zwei- oder dreimal am Tag den Pulli. Bei Nivea mussten seit ihrer Schwangerschaft die Verkaufszahlen in die Höhe geschossen sein, weil sie so viel Deo verbrauchte.
Sie warf einen Blick auf die Treppe und schielte dann zu der Papiertüte, die Paula gebracht hatte. Wieder nach oben und anschlieÃend zur Tüte. Sie focht einen inneren Kampf gegen sich selbst aus, obwohl sie im Grunde längst wusste, dass sie diese Schlacht nur verlieren konnte. Eine solche Versuchung war unwiderstehlich.
Eine Stunde später hatte sie alle Schriftstücke durchgeackert und war kein bisschen klüger. Die offenen Fragen hatten sich sogar vermehrt. Zwischen den Dokumenten fand sie auch Notizen von Patrik: Was ist der Zusammenhang zwischen den vier Männern? Warum starb Magnus als Erster? Worüber hat er sich an diesem Morgen so aufgeregt? Wieso hat er angerufen und gesagt, er würde sich verspäten? Warum hat Christian die Briefe schon viel früher bekommen als die anderen? Hat Magnus Briefe erhalten? Wenn nicht â weshalb? Reihenweise Fragen, und es ärgerte Erica, dass sie keine einzige davon beantworten konnte. Ganz im Gegenteil. Sie hätte noch einige hinzufügen können: Warum ist Christian umgezogen, ohne seine neue Adresse zu hinterlassen? Wer hat ihm die Zeichnungen geschickt? Wer ist die kleine Person auf den Bildern? Und vor allem: Warum ist Christian in Bezug auf seine Vergangenheit so
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