Meerjungfrau
aber nie verarbeitet hatte. Wie oft hatte er sie mit ihren Ambitionen aufgezogen, die immer mit einem viel einfacheren Gericht endeten. Er wünschte, er könnte sie noch einmal necken.
Kenneth machte gröÃere Schritte. Erik hatte zwar gesagt, er müsse heute nicht zur Arbeit kommen, aber er brauchte den gewohnten Tagesablauf. Was sollte er zu Hause machen? Er war wie immer aufgewacht, als der Wecker klingelte, und aus dem Klappbett neben ihrem nun leeren Bett aufgestanden. Sogar die Rückenschmerzen waren ihm willkommen. Dieselben Schmerzen hatte er empfunden, als sie noch da war. In einer Stunde musste er im Büro sein. Die Laufrunde im Wald dauerte jeden Morgen vierzig Minuten. Vor einigen Minuten war er am FuÃballplatz vorbeigekommen, also hatte er ungefähr die Hälfte geschafft. Er lief noch etwas schneller. Die Lunge signalisierte deutlich, dass er sich allmählich seiner körperlichen Belastungsgrenze näherte, aber die FüÃe stürmten immer weiter. Das tat gut. Das Brennen in der Brust verdrängte einen kleinen Teil des Schmerzes in seinem Herzen. Gerade so viel, dass er sich nicht auf die Erde kauerte und der Trauer überlieÃ.
Er wusste nicht, wie er ohne sie leben sollte. Es war, als müsse er fortan ohne Sauerstoff auskommen. Unmöglich. Seine FüÃe bewegten sich immer schneller vorwärts. Vor seinen Augen flimmerten helle Punkte, und sein Gesichtsfeld verengte sich. Er visierte einen weit entfernten Punkt an, ein Loch im Geäst, durch das ein erster Schimmer des Morgenlichts drang. Noch dominierte das harte Licht der StraÃenlampen.
Er gelangte nun auf einen schmaleren und unebenen Pfad voller Buckel und Löcher, dazu ein wenig vereist. Aber er kannte den Weg und brauchte nicht hinabzuschauen. Er starrte ins Licht und konzentrierte sich auf den nahenden Morgen.
Zuerst begriff er nicht, was geschah. Jemand schien ihm eine unsichtbare Wand in den Weg gestellt zu haben. Mitten in der Bewegung blieb er mit den FüÃen in der Luft hängen. Dann kippte er nach vorn. Instinktiv streckte er die Hände aus, um den Sturz abzubremsen, und als seine Hände auf die Erde prallten, setzte sich durch die Arme bis in die Schultern der Schmerz fort. Dem ein anderer Schmerz folgte. Ein Brennen, das ihn nach Luft schnappen lieÃ. Er blickte hinunter. Beide Hände waren mit Scherben bedeckt. Ãberall groÃe und kleine Splitter von durchsichtigem Glas, die nun von dem Blut aus den Wunden rot gefärbt wurden. Er rührte sich nicht. Um ihn herum war es vollkommen still.
Als er sich schlieÃlich aufrichten wollte, verhakten sich seine FüÃe. Er blickte auf seine Beine hinunter. Auch dort waren die Scherben durch die Hose ins Fleisch gedrungen. Er lieà den Blick weiterwandern. Da sah er die Schnur.
»Hilf doch mal ein bisschen mit!« Erica war schweiÃgebadet. Maja hatte das Ankleiden vom Höschen bis zum Schneeanzug boykottiert und schrie aus vollem Hals, als Erica versuchte, ihr die Fäustlinge überzustreifen.
»Es ist kalt drauÃen. Du brauchst Handschuhe«, versuchte sie es, obwohl verbale Argumente an diesem Morgen bislang überhaupt nichts ausgerichtet hatten.
Erica spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel schimpfte, und hätte Maja am liebsten wieder ausgezogen und es sich den ganzen Tag mit ihr gemütlich gemacht, anstatt sie in den Kindergarten zu bringen. Aber das ging nicht. Sie hatte nicht die Kraft, sich alleine um Maja zu kümmern, und auÃerdem würde es morgen noch schlimmer werden, falls sie jetzt nachgab. Wenn Patrik jeden Morgen dieses Theater erlebte, konnte sie verstehen, warum er so kaputt war.
Mühsam rappelte sie sich auf, nahm ihre Tochter ohne weitere Diskussionen an der Hand und zog sie Richtung Haustür. Die Fausthandschuhe stopfte sie in die Tasche. Vielleicht funktionierte es besser, wenn sie beim Kindergarten ankamen, oder sie musste darauf hoffen, dass die Erzieherinnen mehr Glück hatten.
Auf dem Weg zum Auto stemmte Maja die Fersen in den Boden und leistete mit ganzer Kraft Widerstand.
»Komm jetzt. Ich kann dich nicht tragen.« Als Erica etwas fester zupackte, fiel Maja hin und fing an zu heulen. Nun kamen auch Erica die Tränen. Wenn jemand sie in diesem Moment gesehen hätte, wäre wahrscheinlich sofort der Soziale Dienst benachrichtigt worden.
Ohne Rücksicht auf ihre eingequetschten
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