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Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Eriksson
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war. Er starrte sie an, als entziffere er Hieroglyphen auf ihrem Gesicht. Sie streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu beruhigen, obwohl sie seine Reaktion für überzogen hielt. Natürlich war ihr bewusst, dass ihre Offenbarung ungewöhnlich geklungen hatte und den meisten wahrscheinlich ziemlich verrückt erscheinen musste. Das war schließlich der Grund dafür, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt niemandem davon erzählt hatte, nicht einmal den Zollbeamten, die sich bislang mit ihrer Erklärung begnügt hatten, dass die Behälter pulverisierte Kräuter enthielten, die sie für ihre Gesundheit benötigte.
    »Es ist ihre Asche«, erklärte sie, erwartete aber nicht, dass dieser Zusatz wirklich helfen würde. Der Mann — Trevor — stützte seine Ellbogen auf die Knie und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. »Und nicht einmal ihre gesamte Asche. Nur die Hälfte davon«, fügte sie hinzu und schalt sich dabei insgeheim dafür, immer weiterzuschwafeln wie eine Närrin. Sie hatte sowohl einen Teil von Tommy als auch einen Teil von Martin in ihrem Garten zu Hause in Sooke begraben, weil ihr in letzter Minute Bedenken gekommen waren wegen des Gewichts all der eingeäscherten sterblichen Überreste. Ganz davon zu schweigen, Behälter zu finden, die groß genug waren für die Asche eines ausgewachsenen Mannes. Von Donald hatte sie von Anfang an ohnehin nur die Hälfte bekommen. Sie legte eine Hand auf Trevors Rücken, voller Bedauern über ihr Geständnis. Sie war zu voreilig gewesen, zu euphorisch über die Aussicht, nach Wochen des Alleinreisens plötzlich ein wenig Gesellschaft zu haben. Selbstverständlich hatte sie sich im Verlauf ihrer Reise mit vielen Menschen unterhalten, war dabei aber allzu häufig an Sprachbarrieren gescheitert und an ihrer inneren Stimme, die ihr zu verstehen gegeben hatte, dass es nicht der richtige Zeitpunkt und nicht der richtige Mensch war. Aus irgendeinem Grund hatte sie gedacht, diesem Mann hier vertrauen zu können. Vielleicht hatte sie sich von seiner Staatsbürgerschaft täuschen lassen, von dem Gedanken, dass er aus ihrer Heimat stammte. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es war nicht meine Absicht, Sie zu beunruhigen.«

    An dem Tag, an dem Trevor Wallace fünfeinhalb Jahre alt geworden war, hatte ihn sein achtjähriger Bruder Brent hinter den Getreidespeicher geführt, der wie eine Rakete über der Saskatchewanischen Prärie emporragte, und ihm erklärt, wie Babys gemacht wurden. Trevors Vater und seine Onkel hatten den Tag damit verbracht, Mähdrescher über die Felder zu fahren, während Brent und Trevor hinten auf dem Getreidelaster gesessen hatten. Die frisch gedroschenen Körner waren in fauchenden Kaskaden aus dem Schneckenförderer geregnet und hatten sich zu sachten Hügeln gehäuft, die ihnen bis zu den Knien reichten. Sie hatten ihre Hände in die Kornmassen getaucht, die Heuschreckenköpfe herausgeklaubt und die seidigen Körner zu Weizengummi zerkaut. An jenem Abend, während die Männer sich wuschen und die Frauen auf der Veranda Berge von Essen auf zwei langen Holztischen verteilten, hatten die beiden Jungen in einem brachliegenden Beet gekauert, in dem die Rudbeckien neben der zylindrisch gewölbten Metallwand des Getreidespeichers verrotteten. Mit offenem Mund und großen Augen hatte Trevor seinen Bruder angestarrt, während Brent sich mit gedämpfter Stimme in den grundlegenden anatomischen Details ergangen war. In Trevors Kopf hatte sich alles gedreht. Er war selbst früher ein Baby gewesen. Brent ebenfalls. Seine Mutter hatte es ein ums andere Mal genossen, ihnen Fotos zu zeigen von ihren ersten nackten Minuten auf Erden. Aber wodurch waren diese winzigen Zehen und platten Nasen entstanden? Doch sicher nicht dadurch ? Trevor hatte nicht gewusst, ob er lachen oder sich übergeben sollte.
    »Du veräppelst mich«, hatte er zu seinem Bruder gesagt.
    »Ich habe es in einem Buch gelesen«, hatte Brent versichert. »Ehrlich.«
    »Schwörst du?«
    »Großes Indianerehrenwort«, hatte Brent geschworen und sich mit der Hand ein unsichtbares X auf seine Brust gezeichnet.
    Niemand würde es wagen, eine Lüge mit einem Kreuzzeichen zu beschwören. Der kleine Trevor hatte zu den Wolken emporgeblickt, wo laut Aussage des Pastors von der Kirche unten am Ende der Straße Gott der Allmächtige wohnte. Ein Bild von Gott hing im Mittelschiff der Kirche und zeigte einen Mann mit einem wilden Bart, dessen wachsame Augen genau wussten, an welcher Stelle selbst der kleinste Sperling

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