Mehr als nur ein halbes Leben
Atmen.
Atmen.
Ich habe es bis zur Toilette geschafft, und ich will am liebsten aufschreien: Ich hab’s geschafft! und Seht ihr, ich brauche euch beide nicht! , aber es wäre voreilig zu feiern und vermutlich unklug zu prahlen. Noch habe ich nicht das getan, wofür ich hierhergekommen bin, und ich bin noch immer weit davon entfernt, pinkeln zu können.
Ich hole einmal tief Luft und bereite mich darauf vor, den Gehstock loszulassen, um im nächsten Augenblick mit der Hand nach der Haltestange aus rostfreiem Stahl neben der Toilette zu greifen. In jenem entsetzlichen Moment zwischen Stock und Stange fühle ich mich wie ein fliegender Trapezkünstler, der sich von einem Stab schwingt und nach dem nächsten greift, hoch über dem Boden – die Katastrophe, die die ganze Vorstellung beendet, nur eine winzige Fehlkalkulation entfernt. Aber ich schaffe es.
Atmen.
Nächster Schritt. Liebe linke Hand, du musst für mich den Bund meiner Hose und Unterhose finden und sie herunterziehen. Ich weiß, das ist ein bisschen viel verlangt, und ich belästige dich nur ungern damit, aber meine rechte Hand ist vollauf damit beschäftigt zu verhindern, dass wir auf den Boden fallen. Und ich will niemanden um Hilfe bitten. Daher musst du das wirklich für mich tun. Bitte .
Nichts geschieht. Wo zum Teufel ist meine linke Hand? Sie muss irgendwo hier drinnen sein. Zuerst finde ich meinen Diamantring und dann auch meine Hand. Oh nein. Ich halte noch immer diesen verdammten Löffel in der Hand . Liebe linke Hand, bitte lass diesen Löffel los. Du musst den Löffel loslassen, damit du den Bund meiner Hose und Unterhose finden und sie herunterziehen kannst, bevor ich pinkle. Bitte lass den Löffel los .
Nichts geschieht. Lass los. Gib ihn frei. Öffne dich. Geh auf. Entspann dich. Bitte!
Nichts. Gleich drehe ich hier durch. Ich komme mir vor, als würde ich versuchen, ein übermüdetes, ungehorsames, trotziges Kleinkind zu überreden, vernünftig zu sein und zu kooperieren. Am liebsten will ich schreien: Jetzt hör mir mal gut zu, linke Hand, du tust jetzt das, was ich dir sage, oder du bekommst für den Rest des Tages Hausarrest!
Ich muss dringend pinkeln, ich kann wirklich nicht länger anhalten, aber ich weigere mich, um Hilfe zu bitten. Ich schaffe das. Ich war auf der Harvard Business School. Ich weiß, wie man Probleme löst. Löse dieses Problem.
Okay. Behalt den Löffel. Das ist schon gut so. Wir werden ihn benutzen. Liebe linke Hand, finde den Bund deiner Hose und Unterhose und zieh sie mit dem Löffel herunter .
Zu meinem Erstaunen klappt das. Es erfordert mehrere Anläufe und gutes Zureden, und ich bin froh, dass niemand hier drinnen ist, um das mit anzusehen, aber ich schaffe es, meine Hose und Unterhose mithilfe eines Löffels bis zu den Oberschenkeln herunterzuzerren. Fast geschafft. Während ich mich mit der rechten Hand an die Stange klammere, als hinge mein Leben davon ab, lasse ich mich langsam auf den Toilettensitz sinken.
Süße Erleichterung.
Der Rest ist relativ einfach. Ich wische mich mit der rechten Hand ab, ziehe meine Unterhose und Hose noch im Sitzen mit der rechten Hand wieder hoch, umklammere die Haltestange, stemme mich hoch und schwinge mich von der Stange zu meinem Gehstock. Dann drehe ich mich um und mache ein paar kleine Schritte hinüber zum Waschbecken. Ich lehne mich mit meinem Becken dagegen und lasse den Stock los.
Wie ich es in der Therapie jeden Tag geübt habe, sehe ich auf die linke Seite des Hahns, um mit der rechten Hand den Warmwasserknauf zu finden. Ich drehe das Warmwasser auf und wasche mir die rechte Hand. Ich versuche gar nicht erst, mir die linke zu waschen. Dann trockne ich mir die Hand an der Hose ab, umklammere meinen Stock und verlasse das Badezimmer.
Stock. Schritt. Nachziehen. Atmen.
Ich habe es fast geschafft. Siehst du? Du brauchst Martha nicht. Du brauchst keine Reha in Baldwin mehr. Und du brauchst eindeutig deine Mutter nicht .
Ich höre Martha lachen. Wider besseres Wissen blicke ich von meinem Gehstock und meinem Fuß auf. Ich schaue sie an und sehe, dass Martha über mich lacht. Und meine Mutter versucht es sich zu verbeißen.
»Was ist denn so witzig?«, frage ich.
»Sie sollten vielleicht überlegen, ob Sie das Hilfsangebot Ihrer Mutter nicht doch annehmen wollen«, sagt Martha.
Das bringt bei meiner Mutter das Fass zum Überlaufen, und jetzt prusten sie beide los.
»Was denn?«, frage ich.
Meine Mutter hält sich eine Hand vor den Mund, als wollte sie
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