Mehr als nur ein halbes Leben
verschwinden, ist extrem frustrierend und kompliziert. Selbst mit dem rechten Fuß einen Schritt nach vorn zu machen erfordert einen bewussten, anhaltenden Glauben an die Existenz meiner linken Seite, denn wenn dieser rechte Fuß in dem Raum zwischen hier und dort ist, stehe ich ausschließlich auf dem linken Bein. Mein linkes Bein und mein linker Fuß müssen angemessen aktiviert werden, müssen eine Balance zwischen Biegen und Dehnen finden. Sie sind dafür zuständig, mein Gleichgewicht und meinen ganzen Körper zu halten – ein großer Befehl für ein Gefolge, das mir gegenüber keinerlei Loyalität empfindet.
Manchmal denke ich, am einfachsten wäre es, auf dem rechten Fuß zu hüpfen, um mich fortzubewegen, aber bislang hatte ich noch nicht den Mut, es zu versuchen. Wenn man es logisch betrachtet, müsste das Hüpfen eigentlich klappen, aber irgendwie weiß ich einfach, dass ich dabei letztendlich ausgestreckt auf dem Boden landen werde. Dass ich dieses Ergebnis schon erwarte, sollte mich eigentlich nicht davon abhalten, trotzdem einen Versuch zu wagen, weil ich meistens am Schluss sowieso ausgestreckt auf dem Boden lande. Ich habe am ganzen Körper große blaue Flecken davon. Ich kann kaum glauben, dass ich mir noch nicht die Hüfte gebrochen oder das Knie verrenkt habe. Gott sei Dank habe ich kräftige Knochen und lockere Gelenke. Ich nehme an, mir ist bewusst, dass Hüpfen langfristig keine praktische Lösung für Mobilität ist.
An dem Punkt kommt mir der Gehstock zugute. Bevor ich mit einem der beiden Füße einen Schritt mache, gehe ich einen Schritt mit der rechten Hand auf dem Gehstock, sodass ich etwas Stabilität und Sicherheit gewinne. Dann verlagere ich mein Gewicht, so gut es geht, auf die rechte Hand, um die Belastung für mein unzuverlässiges linkes Bein zu verringern, und trete mit dem rechten Fuß vor bis zu dem Stock.
Jetzt ist mein linkes Bein irgendwo hinter mir, und der Trick besteht darin, mich erstens daran zu erinnern, dass ich ein linkes Bein habe, und zweitens daran zu glauben, dass es irgendwo hinter mir ist. Dann muss ich es finden und neben mich bekommen. Normalerweise würde man das Bein dafür natürlich einfach anheben und einen Schritt nach vorn machen. Aber zum großen Entsetzen meines Stolzes tue ich das nicht. Dass ich mein linkes Bein anhebe und versuche, wie ein normaler Mensch (na ja, ein normaler Mensch mit einem Gehstock) zu laufen, kommt nur vor, wenn ich auf der Matte im Fitnessraum bin und mir jemand dabei zusieht. Denn wenn ich mein linkes Bein vom Boden hebe, kann ich in null Komma nichts vergessen haben, wo es ist, und dann kann ich nicht sagen, wann es wieder Kontakt zum Boden herstellen wird. Ich rechne immer zu früh oder zu spät damit und tue mir letztendlich irgendetwas Seltsames und Schmerzhaftes an – wozu auch gehört, dass ich ausgestreckt auf dem Boden lande.
Daher ziehe ich mein linkes Bein nach. Das ist weitaus sicherer, und meine Chancen, vorwärtszukommen, sind deutlich höher, wenn mein linker Fuß den Kontakt zum Boden nie verliert. Ich weiß, es sieht erbärmlich aus, aber ich trage eine schwarze Hose mit elastischem Bund – genau wie die meiner Mutter –, eine leuchtend rosa Skimütze, Socken in zwei verschiedenen Farben und kein Make-up. Ich glaube, man kann getrost sagen, dass Eitelkeit nicht mehr meine größte Sorge ist. Außerdem ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für waghalsige Aktionen. Wenn ich stürze, werden Martha und meine Mutter sofort bei mir sein, um mir aufzuhelfen. Und ich will die Hilfe von niemandem.
Stock. Schritt. Nachziehen. Atmen.
Stock. Schritt. Nachziehen. Atmen.
Ich kann ihre Blicke auf mir spüren. Denk nicht an sie, Sarah. Du kannst es dir nicht leisten, abgelenkt zu werden. Du gehst zur Toilette. Du gehst zur Toilette .
Stock. Schritt. Nachziehen. Atmen.
Meine Mutter putzt sich die Nase. Sie wird nicht mit mir nach Hause kommen. Sie glaubt, sie kann einfach hier aufkreuzen und meine Mutter sein. Aber so ist es nicht. Es ist zu wenig, zu spät. Hör auf damit. Denk nicht an sie. Du gehst zur Toilette .
Stock. Schritt. Nachziehen. Atmen.
Ich kann nicht glauben, dass Bob mit ihr darüber geredet hat, ohne vorher mit mir zu sprechen. Ich kann nicht glauben, dass er das mit ihr entschieden hat, anstatt das genaue Gegenteil mit mir zu entscheiden. Was hat er sich eigentlich dabei gedacht? Denk jetzt nicht daran. Rede später mit ihm. Du gehst zur Toilette .
Stock. Schritt. Nachziehen.
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