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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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verzweifelt nach dem Typen mit den roten Luftballons. Walter ist verschwunden.
    »Augenblick«, sagt Heidi.
    Sie fegt das Bild mit dem städtischen Platz vom Tisch – vermutlich, damit ich nicht noch weiter verzweifle – und läuft aus dem Fitnessraum. Ich versuche mich zusammenzureißen, bis sie wiederkommt, weil ich das Gefühl habe, dass mein Ausrasten ein Publikum braucht, um möglichst effektiv zu sein. Wohin ist sie gegangen? Vielleicht sucht sie nach einer einfacheren Aufgabe, nach irgendetwas, das ich problemlos bewerkstelligen kann, damit ich mich gut fühle und wir meine letzte Sitzung hübsch und ordentlich mit einer positiven Grundstimmung beenden können. Aber vielleicht ist sie auch zu Dr. Nelson gelaufen und fleht ihn jetzt an, die Entscheidung, mich nach Hause zu schicken, rückgängig zu machen. Sie kann nicht einmal eine Katze abmalen!
    »Okay.« Sie hat einen Leinenbeutel in der Hand, als sie zu ihrem Platz neben mir zurückkehrt. »Sieh dir dieses Bild an.«
    Sie legt ein Blatt Papier auf den Tisch vor mir, genau in die Mitte. Ich sehe zwei einfache Häuser, eins auf der oberen Hälfte des Blattes, das andere unten. Sie haben beide zwei Fenster und eine Haustür. Sie sind in jeder Hinsicht identisch.
    »In welchem würdest du lieber wohnen?«, fragt Heidi.
    Ich würde in keinem dieser schäbigen kleinen Häuser wohnen wollen.
    »Sie sind beide gleich«, erwidere ich.
    »Okay, aber wenn du eins wählen müsstest, in welchem würdest du wohnen wollen?«
    »Das ist mir egal.«
    »Dann wähle einfach eins für mich aus.«
    Ich studiere die identischen Häuser ein letztes Mal und suche nach irgendeinem winzigen Detail an einem von ihnen, das ich vielleicht übersehen haben könnte, einer zusätzlichen Scheibe in einem der Fenster oder einer fehlenden Schindel auf einem der Dächer. Nein, sie sind genau gleich.
    »Na schön.« Ich deute auf das obere.
    Heidi lächelt, aus irgendeinem mir unbekannten Grund entzückt von meiner Wahl des hypothetischen Wohnorts. Sie nimmt mein rotes, l-förmiges Lesezeichen und legt es auf das Papier.
    »Okay, geh nach links. Finde den roten Rand.«
    Meine Augen kriechen über die weiße Seite nach links, bis ich etwas Rotes sehe. Dann lenke ich den Blick auf die rechte Seite des roten Rands – und bin verblüfft von dem, was ich jetzt dort gezeichnet finde, so unverkennbar, so offensichtlich. Ich sehe zwei einfache Häuser, in jeder Hinsicht identisch, nur dass die linke Hälfte des unteren Hauses von Feuer zerfressen wird.
    »Oh mein Gott«, sage ich.
    »Siehst du es?«, fragt Heidi.
    »Das untere Haus brennt.«
    »Ja! Und du hast das obere Haus gewählt!«
    »Na und? Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig.«
    »Das war kein Zufall. Dein Gehirn hat das ganze Bild wahrgenommen. Dir ist nur nicht immer bewusst, was es auf der linken Seite wahrnimmt. Aber deine Intuition hat dir geraten, das obere Haus zu wählen. Du musst auf diese Intuition hören. Du bist keine Idiotin, Sarah. Dein Verstand ist intakt.«
    Ich nehme an, das stimmt. Aber was ändert es denn, wenn mein Gehirn das ganze Bild sieht? Wenn es das, was es weiß, mir nicht so mitteilt, dass ich mir dessen bewusst sein kann, was nützt mir das dann?
    »Du hast wirklich Glück gehabt. Es gibt hier so viele Leute, die nicht einmal mehr denken oder sich an jemanden erinnern oder sprechen oder sich bewegen können. Stell dir mal vor, du könntest nicht mehr mit Bob oder deinen Kindern sprechen oder dich nicht mehr an sie erinnern oder sie festhalten.«
    Im Verlauf des letzten Monats habe ich viele Male einen flüchtigen Blick auf die unfassbare Zerstörung erhascht, die der menschliche Körper und Geist überleben können. In der Cafeteria, auf den Korridoren, im Aufzug, in der Eingangshalle – überall habe ich plötzlich Leute gesehen, denen ein Arm oder Bein oder Teile ihres Schädels fehlten, Leute mit entstellten Gesichtern, ausgelöschtem Gedächtnis, erstickter Sprache, mit Schläuchen und Apparaten, die die Ernährung und das Atmen unterstützten. Ich habe mich immer gezwungen, den Blick abzuwenden, und mir gesagt, dass es nur höflich ist, sie nicht anzustarren. Aber die Wahrheit ist: Ich wollte niemanden sehen, der noch schlimmer dran ist als ich, weil ich mich gar nicht erst auf diese Sichtweise einlassen wollte, die Heidi eben angedeutet hat – dass ich Glück hatte.
    »Und du hättest leicht sterben können, Sarah. Du hättest bei diesem Unfall oder bei oder nach der Operation sterben

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