Mehr als nur ein halbes Leben
Hause fahren werde, und Bob und meine Mutter haben sich weiß Gott wann ohne mich zusammengesetzt und beschlossen, dass ich gepflegt werden muss und dass meine Mutter meine Pflegerin sein wird. Gefühle von Verrat und Hilflosigkeit treten schreiend um sich, während sie in die tiefen, dunklen Winkel meiner Magengegend hinabsinken, wo sie sich – obwohl sie dort sogar einmal jahrelang gelebt haben – überhaupt nicht zu Hause fühlen und nicht mehr herausfinden.
»Seit wann sorgst du dich denn um mich? Du hast dich doch nicht mehr um mich gesorgt, seit Nate gestorben ist.«
Alle Farbe weicht aus ihrem Gesicht – bis auf das Rot ihrer Lippen. Auf ihrem Stuhl sitzend, nimmt sie auf einmal eine Haltung angespannter Stille an, wie ein Kaninchen, das Gefahr wittert, im Begriff, um sein Leben zu laufen.
»Das stimmt nicht«, widerspricht sie.
Normalerweise würde ich an diesem Punkt einen Rückzieher machen. Wir reden nicht über Nate oder meine Kindheit. Wir reden nicht über sie oder mich. Normalerweise würde ich mich entscheiden, nichts zu sagen, und meine Suppe essen wie ein braves Mädchen. Und dann würde sie weiter die gute Mutter sein und mir die Suppe abwischen, die mir zweifellos an der linken Seite des Kinns herunterlaufen wird. Und ich würde die gute Tochter sein und lächeln und ihr danken. Aber ich habe die Schnauze voll von dieser Farce. Endgültig voll.
»Du hast mir nie bei meinen Hausaufgaben oder bei Problemen mit meinen Freunden geholfen – oder dabei, aufs College zu kommen oder meine Hochzeit zu planen. Du hast mir nie bei irgendetwas geholfen.«
Ich halte inne, bewaffnet mit tausend weiteren Beispielen und bereit, damit auf sie loszugehen, falls sie versuchen sollte, mir mit einer umgedichteten Geschichte zu kommen.
»Jetzt bin ich hier«, sagt sie.
»Na ja, jetzt will ich dich nicht hier.«
»Aber Sarah, du …«
»Du bleibst nicht.«
»Du brauchst Hilfe.«
»Dann werde ich sie mir von jemand anderem besorgen, wie ich es immer getan habe. Ich brauche dich nicht.«
Ich funkle sie an, fordere sie heraus, mir zu widersprechen, aber ich habe es schon geschafft. Sie weint. Martha reicht ihr ein Päckchen Taschentücher. Meine Mutter putzt sich die Nase und tupft sich die Augen, während sie immer noch schluchzt. Ich sitze da und sehe sie an, provoziere sie mit meinem trotzigen Schweigen. Gut. Ich bin froh, dass sie weint. Ich fühle mich nicht schlecht ihretwegen. Es tut mir nicht leid. Ihr soll zum Weinen zumute sein. Ihr soll es leidtun.
Aber sosehr ein Teil von mir sie auch geteert und gefedert im Stadtzentrum sehen will, kann ich diese harte und herzlose Haltung doch nur ein oder zwei Minuten lang aufrechterhalten, und dann fühle ich mich trotz allem schlecht ihretwegen. Sie hat mir in den letzten fünf Wochen zur Seite gestanden. Sie ist jeden Tag hier gewesen. Sie hat mir geholfen, zu laufen und zu essen, mich zu duschen und mich anzuziehen, zur Toilette zu gehen. Ich habe sie gebraucht. Und jetzt ist sie hier.
Aber ich kann die letzten dreißig Jahre Verlassensein nicht einfach übergehen und so tun, als hätte sie sich nicht die meiste Zeit meines Lebens dagegen entschieden, meine Mutter zu sein. Ich halte es nicht mehr aus, sie weinen zu sehen, aber ich werde den Teufel tun, mich zu entschuldigen oder ihrem Plan, noch länger zu bleiben, zuzustimmen. Wir sind hier alle fertig. Ich fahre nach Hause und zurück zu meinem Leben, und sie wird zurück zu ihrem fahren. Ich schnappe mir mit der rechten Hand meinen Gehstock, stütze mich darauf und schwinge die Beine über die Bettkante.
»Wohin gehen Sie?«, fragt Martha.
»Ich gehe zur Toilette«, antworte ich und stelle beide Füße auf den Boden.
Martha stellt sich neben mich, in der Position des Spotters.
»Helfen Sie mir nicht. Ich brauche die Hilfe von niemandem.«
Sie hält inne und sieht mich noch einmal mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann zieht sie sich zurück und geht mir aus dem Weg. Mir ist bewusst, dass Martha mich für eine verwöhnte Göre und schreckliche Tochter halten muss, aber inzwischen ist es mir egal, was irgendjemand hier von mir denkt. Na ja, es ist mir nicht egal, was Heidi von mir denkt, aber sie ist im Augenblick nicht hier. Und im Augenblick bin ich eine verwöhnte Göre und schreckliche Tochter, die wild entschlossen ist, ohne die Hilfe von irgendjemandem zur Toilette zu gehen.
Aber mit einem linken Bein zu laufen, das im einen Moment auftaucht, um im nächsten direkt wieder zu
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