Mehr als nur ein halbes Leben
sich beherrschen, aber dann fängt sie Marthas Blick auf und gibt auf, lacht noch schallender los.
»Wo ist denn Ihre linke Hand?«, fragt Martha, während sie sich mit dem Handrücken die Augen abwischt.
Ich weiß es nicht. Ein kribbelndes Vorspiel zu einer nicht mehr zu verhindernden Peinlichkeit durchströmt mich, während ich nach meiner linken Hand suche. Wo ist meine linke Hand? Ich habe keine Ahnung. Ich ignoriere das Gelächter der beiden ebenso wie die Tatsache, dass ich mich nicht annähernd genug darauf konzentriere, aufrecht in der Mitte des Zimmers zu stehen, und versuche, meinen Diamantring zu finden. Aber ich kann ihn nirgends entdecken.
Egal. Ignoriere sie. Ich bin eben im Begriff, mich weiter in Richtung Bett vorzuarbeiten, als ich auf einmal glattes Metall an meinem Oberschenkel spüre. An meinem nackten Oberschenkel. Der Löffel. Ich sehe hinunter und nach links.
Mein linker Arm steckt in meiner Hose.
ACHTZEHNTES KAPITEL
----
Ich sitze im Fitnessraum an einem der langen Tische und male das Bild einer Katze ab. Als ich fertig bin, lege ich meinen Bleistift zufrieden hin. Heidi sieht es prüfend an.
»Du bist richtig gut«, sagt sie.
»Habe ich die ganze Katze hinbekommen?«
»Nein, aber das, was du gezeichnet hast, ist weitaus besser als das, was ich könnte.«
»Was habe ich übersehen?«
»Das linke Ohr, die linken Schnurrhaare und die linken Pfoten.«
Ich betrachte die beiden Bilder, sehe immer wieder zwischen der Originalkatze und meiner Katze hin und her. Für mich sehen sie genau gleich aus.
»Okay«, sage ich mit leiser Stimme.
»Aber du hast beide Augen, die linke Hälfte von Mund und Nase und den größten Teil des Körpers auf der linken Seite hinbekommen. Das ist wirklich gut, Sarah. Du nimmst schon so viel mehr auf als am Anfang, als du hierherkamst«, lobt sie, während sie all die Bilder durchblättert, die ich an diesem Morgen abgemalt habe.
Ich habe mich verbessert. Aber »wirklich gut« ist wirklich übertrieben. Charlie und Lucy könnten die ganze Katze abmalen. Aber ich kann es immer noch nicht. Und heute ist mein letzter Tag.
Heidi legt das nächste Blatt auf den Tisch, ein äußerst detailliertes Bild eines städtischen Platzes mit Gebäuden, Autos, Personen, einem Brunnen und Tauben. Es ist weitaus komplexer als jedes andere Bild, das ich während meines Aufenthalts hier bisher abmalen musste. Ich nehme den Bleistift in die Hand, aber dann halte ich unvermittelt inne, nicht sicher, wo ich die Spitze ansetzen soll. Ich muss die linke Seite der ganzen Szene finden. Dann muss ich alles in diesem verwirrend unbeständigen Raum zeichnen, einschließlich der verwirrend unbeständigen linken Seite von allem, was ich dort finde. Und dann muss ich auch noch die linke Seite von allem auf der rechten Seite der Szene finden – die linke Seite jedes Autos, jeder Taube, jeder Person, die linke Hälfte des Brunnens. Ich bemerke einen Mann, der mit seinem Hund Gassi geht, rechts neben dem Brunnen, aber dann werde ich hoffnungslos von einem anderen mit einem Strauß roter Luftballons rechts von ihm angezogen, und der Mann mit dem Hund verschwindet. Wie in aller Welt soll ich das in Angriff nehmen? Das ist vermutlich das Bild, das ich an meinem letzten Tag hätte abmalen können sollen, wenn ich vollständig genesen wäre, den letzten Seiten irgendeines Reha-Übungsbuchs entnommen, Hunderte von Seiten nach dem Kapitel, in dem ich hoffnungslos festhänge.
»Was ist los?«, fragt Heidi.
»Ich kann das nicht.« Ich spüre Panik in mir aufsteigen.
»Natürlich kannst du das. Versuch, mit den Gebäuden anzufangen.«
»Nein. Nein, ich kann das nicht. Ich kann nicht einmal eine Katze abmalen.«
»Die Katze hast du sehr gut hinbekommen. Nimm dir immer nur eine Sache auf einmal vor.«
»Ich kann nicht. Ich kann so nicht nach Hause fahren, Heidi. Wie soll ich denn all das tun, was ich tun soll?«
»Beruhige dich. Du schaffst das schon.«
»Ich schaffe das nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht einmal eine Katze abmalen.«
»Du hast das meiste der Katze …«
»Ich habe in Harvard studiert, und jetzt bin ich eine Idiotin, die nicht einmal eine Katze abmalen kann.« Ich kämpfe mit den Tränen.
Vor dem Unfall konnte ich alles, was auf einem Blatt Papier stand, rasch begreifen – komplizierte Kostenanalysen, Organigramme, Entscheidungsbäume. Jetzt würde mich eine Seite aus Charlies Wo ist Walter? vermutlich in die Knie zwingen. Ich schaue wieder auf das Bild, suche
Weitere Kostenlose Bücher