Mehr als nur ein halbes Leben
können. Du hättest gegen einen anderen Wagen krachen und jemanden töten können. Was, wenn deine Kinder bei dir im Auto gewesen wären? Du hast wirklich Glück gehabt.«
Ich sehe ihr in die Augen. Sie hat recht. Ich habe immer nur an das gedacht, was an meinem Zustand so entsetzlich, ungerecht und erschreckend ist, und gar nicht begriffen, was an meinem Zustand positiv ist – so als hätte das Positive still und allein weit auf der linken Seite meines Zustands gesessen, zwar vorhanden, aber völlig unbeachtet. Ich kann keine ganze Katze abmalen. Aber ich kann sie erkennen und benennen, ich weiß, wie sie sich anhört und anfühlt. Und ich kann den größten Teil von ihr abmalen, genug, damit jeder, der sie ansieht, weiß, was ich gezeichnet habe. Ich habe Glück gehabt.
»Danke, Heidi. Danke, dass du mir das in Erinnerung gerufen hast.«
»Gern geschehen. Du schaffst das schon. Das weiß ich. Und …«
Sie beugt sich vor, greift in ihren Leinenbeutel und überreicht mir eine Flasche Weißwein mit einer festlichen roten Schleife um den Hals.
»Trara! Fürs nächste Mal, wenn ich dich sehe, in meinem oder deinem Wohnzimmer.«
»Danke«, sage ich lächelnd. »Ich kann es kaum noch erwarten.«
Sie stellt die Flasche Wein auf das brennende Haus auf dem Tisch und umarmt mich.
»Vertrau deiner Intuition. Sie wird dich leiten«, rät sie mir, während sie mich noch immer umarmt.
»Danke, Heidi. Danke für alles.« Ich drücke sie noch ein bisschen fester mit meinem rechten Arm.
Ihr Handy vibriert. Sie lässt mich los und liest eine SMS.
»Ich muss jemanden zurückrufen. Ich bin gleich wieder da, und dann machen wir dich fertig, um nach Hause zu fahren.«
»Okay.«
Zum letzten Mal allein im Fitnessraum, lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Mach’s gut, Barren. Mach’s gut, Spiegel. Mach’s gut, Poster. Mach’s gut, Puzzle- und Spieletisch. Macht’s gut, Perlen und Schalen. Macht’s gut … Augenblick!
Ich sehe noch einmal zurück zu dem Poster. Irgendetwas ist anders. Mir ist nur bewusst, dass irgendetwas an dem Poster anders ist, ohne dass ich im ersten Moment sagen könnte, was genau anders ist. Und dann sehe ich es, so unverkennbar, so offensichtlich, genau wie bei dem brennenden Haus.
Das Bild auf dem Poster zeigt zwei Hände, nicht eine. Und die Hände sind nicht zu zwei Fäusten geballt, nicht bereit zum Kampf. Die Hände sind gefaltet. Sie halten einander. Und das Wort über den Händen in der roten Schrift heißt nicht »Haltung«. Das Wort über den Händen, die einander halten, heißt »Dankbarkeit«.
Ich fange an zu weinen, denn ich liebe dieses Poster, das ich die ganze Zeit über völlig falsch verstanden habe. Ich denke an Heidi und Bob und meine Kinder und sogar an Martha und meine Mutter und die ganze Hilfe und Liebe, die ich bekommen habe, und an alles, was ich habe. Vermutlich hat mein Gehirn die ganze Zeit das ganze Poster wahrgenommen und meine Aufmerksamkeit immer wieder darauf gelenkt, hat versucht, es mir zu zeigen. Ein Teil von mir – stillschweigend, unbewusst und unversehrt – wusste immer, worum es bei diesem Poster ging. Danke, dass du mir das mitgeteilt hast .
Ich fahre heute nach Hause, nicht in der Lage, eine ganze Katze abzumalen, aber imstande, dieses ganze Poster zu sehen, erfüllt von Dankbarkeit.
NEUNZEHNTES KAPITEL
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Bob fährt uns nach Hause. Nach Hause! Selbst die Fahrt in dem zweitürigen VW Käfer meiner Mutter, in dem ich noch nie gesessen habe, kommt mir vor wie zu Hause. Ich sitze wieder in einem Wagen! Da ist das Wissenschaftsmuseum! Ich bin auf der Route 93! Ich bin auf dem Mass Pike! Da ist der Charles River! Ich grüße im Vorbeifahren jeden vertrauten Orientierungspunkt, als würde mir ein guter alter Freund über den Weg laufen, und ich verspüre diese wachsende Aufregung, die sich immer einstellt, wenn ich nach einer langen Geschäftsreise vom Flughafen nach Hause fahre. Aber heute muss man diese Aufregung noch mal zehn nehmen. Ich bin fast da. Ich bin fast zu Hause !
Alles tritt überdeutlich zu Tage. Selbst das Nachmittagslicht in der Außenwelt erscheint meinen Augen über die Maßen hell und strahlend, und jetzt verstehe ich, warum Fotografen natürliches Licht bevorzugen. Alles sieht dynamischer aus, dreidimensionaler und lebendiger als irgendetwas, was ich einen Monat lang in dem nüchternen Neonlicht von Baldwin gesehen habe. Doch es ist nicht nur die kühne Schönheit des Außenlichts, die mich so begeistert. Das
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