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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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roten Tellerschlitten auf der Kuppe unseres bescheidenen Hügels und ein wildes Zickzackmuster aus Fußstapfen und Schlittenspuren.
    Und weit und breit kein Gefängnis.
    In mancher Hinsicht hat sich alles in meinem Leben dramatisch verändert. Aber in anderer Hinsicht ist mein Leben noch immer genau dasselbe. Winterfreuden im Garten, Lucy, die tanzt, Linus’ Finger auf meinem Gesicht, Bob, der lacht, der Duft des Weihnachtsbaums. Damit kann ich klarkommen. Und ich sauge alles tief in mich auf.

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
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    Die größte Veränderung hier ist, wie sich herausstellt, nicht das orangefarbene Klebeband an den Wänden oder die Tatsache, dass meine Mutter im Wintergarten schläft. Charlie hat ADHS. Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Bob hat mir die Neuigkeit im Bett beigebracht, an meinem ersten Abend zu Hause. Er sagte, der Arzt sei sich sicher und Charlies Symptome seien klassisch, aber nicht schwerwiegend. Bis ich einschlief, weinte ich leise in Bobs Armen, während er mir versicherte, dass alles gut werden würde mit Charlie.
    Charlie bekommt Concerta, das wie Ritalin ist, den Wirkstoff aber kontinuierlich über zwölf Stunden freisetzt. Er nimmt jeden Morgen zum Frühstück eine Tablette. Wir sagen Vitamine statt Medizin dazu, damit er nicht denkt, dass er krank, behindert oder beeinträchtigt ist. Bis jetzt hat er nicht über Kopfschmerzen oder Appetitverlust geklagt, und Ms. Gavin sagt, sie habe bereits bemerkt, dass sich sein Verhalten in der Schule positiv verändert hat.
    Außerdem haben wir angefangen, viele »Lebensstil«-Anpassungen vorzunehmen, die ihm zum Erfolg verhelfen sollen. Wir haben seine Ernährung umgestellt – kein zuckerhaltiges Müsli mehr, kein Eis am Stiel und keine Gummihaie mehr, die voller E 129 und E 132 stecken, keine Limonade mehr, kein Fastfood mehr. Er ist alles andere als begeistert von dieser Veränderung, und das kann ich ihm nicht verdenken. Selbst ich vermisse die Gummihaie. Er hat für jeden Morgen und Abend eine Erledigungsliste, die in einem Raster ordentlich ausgedruckt auf einer Tafel an seiner Zimmerwand hängt, sodass er klar sehen und abhaken kann, was er jeden Tag vor der Schule und vor dem Schlafengehen zu erledigen hat. Außerdem stehen Charlies Regeln auf einem Blatt Papier, das unter einem Magneten am Kühlschrank hängt.
    Nicht schlagen.
    Nicht schreien.
    Nicht unterbrechen.
    Zuhören und tun, was du gesagt bekommst.
    Deine Hausaufgaben machen, ohne zu jammern.
    Unter Ms. Gavins Anleitung haben Bob und ich außerdem ein Anreizprogramm entwickelt – die Murmelminuten. Charlie beginnt jeden Tag mit sechs Murmeln in einem Kaffeebecher. Jede Murmel ist zehn Minuten Fernsehen und/oder Videospiele wert. Wenn Charlie den ganzen Tag alle Regeln ohne einen Verstoß befolgt, darf er ab 17.00 Uhr eine Stunde fernsehen. Aber für jede Regelverletzung, die er begeht, verliert er eine Murmel.
    Heute hat er einen typischen Tag. Es ist 16.00 Uhr, und er hat bereits die Hälfte seiner Murmeln verloren. Er hat Lucy ihren iPod aus den Händen gerissen und ihr damit auf den Kopf geschlagen, als sie versucht hat, ihn sich zurückzuholen. Meine Mutter musste ihn dreimal bitten, seine Jacke vom Boden aufzuheben und an einen Haken im Windfang zu hängen. Und ich war eben in einem Telefongespräch mit meinem ambulanten Ergotherapeuten, als er mich mit einer Maschinengewehrsalve »Mom, Mom, Mom, Mom, Mom, Mom« bombardiert hat. Ich hätte ihm für jedes »Mom« eine Murmel wegnehmen sollen, aber er will unbedingt Super Mario spielen, und ich weiß, dass ich besser noch ein paar Murmeln in der Hinterhand haben sollte, wenn wir die Hausaufgaben in Angriff nehmen.
    Wir sitzen am Küchentisch – er mit seinen Hausaufgaben vor sich, ich mit meinen Patienten-Aufgaben vor mir – und wünschten beide, wir könnten irgendetwas anderes tun. Ich weiß, dass er darum betet, nicht auch noch seine restlichen Murmeln zu verlieren. Und ich hoffe, dass ich nicht mit ihm zusammen den Verstand verliere. Bob ist auf der Arbeit, und meine Mutter und Linus sind bei Lucys Tanzunterricht. Der Fernseher ist ausgeschaltet, das Haus ist still, und der Tisch ist frei geräumt.
    »Okay, Charlie, bringen wir’s hinter uns. Wer soll anfangen?«
    »Du«, sagt er.
    Ich schätze das Cafeteria-Tablett ab, das genau vor mir steht. Eine senkrechte Linie aus orangefarbenem Klebeband teilt das Tablett in zwei Hälften. Das Tablett ist leer.
    »Okay, los geht’s«, sage

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