Mehr als nur ein halbes Leben
ich in einer Viertelstunde immer erledigt habe. Normalerweise hätte ich jetzt bereits meinen Laptop hochgefahren, die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abgehört, die Post durchgesehen, den Fernseher eingeschaltet, hätte Kaffee aufgesetzt – und mindestens eines der Kinder an den Füßen oder auf meiner Hüfte.
»Wo sind denn alle?«, frage ich.
»Abby holt Charlie vom Basketball ab, und Linus und Lucy müssten mit deiner Mutter irgendwo hier sein. Ich habe deine Mutter gebeten, sie aus dem Wohnzimmer fernzuhalten, bis ich dich hereingebracht habe. Ich gehe sie holen.«
Jetzt, als ich mit dem Blick in die Richtung sitze, aus der ich gekommen bin, werden die andere Seite des Wohnzimmers und der Wintergarten dahinter sichtbar, die auf dem Weg im Schatten meines Neglects gelegen haben. Unser Weihnachtsbaum ist aufgestellt und mit bunten, leuchtenden Lichterketten und einem Engel, der sich auf der Spitze dreht, geschmückt. Es ist ein großer Baum dieses Jahr, noch größer als unser üblicherweise schon großer Baum, sicher weit über drei Meter hoch. Unsere Wohnzimmerdecke ist gewölbt und mindestens sechs Meter hoch, und wir kaufen immer den größten Baum auf dem Platz. Aber jedes Jahr, kurz bevor wir es tun, zögere ich immer. »Meinst du nicht, er ist ein bisschen zu groß?« Und Bob sagt immer: »Je größer, desto besser, Schatz.«
Ich bin mehr als nur ein bisschen beunruhigt durch die Tatsache, dass ich den Baum nicht bemerkt habe, als ich ins Wohnzimmer kam. Es ist eine Sache, ein Stück Huhn auf der linken Seite meines Tellers zu übersehen – oder Worte, die links auf einer Seite stehen –, aber mir ist soeben ein drei Meter hoher Nadelbaum entgangen, der über und über mit blinkenden bunten Lichtern und glitzerndem Weihnachtsschmuck verziert ist. Selbst der frische Kiefernduft, den ich liebe und den ich tatsächlich bemerkt habe, war kein Hinweis für mich. Jedes Mal, wenn ich glaube, dass mein Defizit vielleicht doch nur klein und nicht so schwerwiegend ist, erlebe ich so etwas, einen unanfechtbaren Gegenbeweis. Das Ausmaß meines Neglects ist immer größer, als ich glaube. Entschuldige, Bob, manchmal ist größer eben doch nicht besser.
Die Tür zum Wintergarten ist geschlossen, was ungewöhnlich ist, wenn niemand darin ist. Bob oder ich gehen dort hinein und schließen die Tür, wenn wir einen beruflichen Anruf entgegennehmen und den Wahnsinn des restlichen Hauses hinter uns lassen müssen, aber sonst lassen wir sie offen. Ich liebe es, sonntagmorgens im Pyjama Zeit allein dort drinnen zu verbringen, Kaffee aus meinem größten Harvard-Becher zu schlürfen, in meinem Lieblingssessel die New York Times zu lesen, die Wärme des Kaffees über meine Handflächen in mich aufzunehmen und die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. In meinem Fantasieleben verbringe ich einen ganzen Sonntagmorgen ungestört in diesem Refugium, bis ich mit meinem Kaffee und der Zeitung fertig bin. In meiner absoluten Traumwelt schließe ich dann die Augen und gönne mir den Luxus eines Nickerchens.
Aber dazu kommt es nie. In der Regel habe ich nur ungefähr eine Viertelstunde am Stück, bevor Linus weint, Lucy schreit oder Charlie eine Frage stellt, bevor irgendjemand etwas zu essen oder etwas zu tun braucht, bevor mein Handy vibriert oder mein Laptop eine eingehende E-Mail meldet, bevor ich irgendetwas zerbrechen oder überschwappen oder – was am meisten Aufmerksamkeit an sich reißt – das unheimliche Geräusch höre, wenn auf einmal alles zu still geworden ist. Aber trotzdem, eine Viertelstunde kann ein Segen sein.
Mir fällt ein, dass es jetzt relativ leicht für mich sein dürfte, mir diesen Traum zu erfüllen. Montags bis freitags werden die Kinder in der Schule und der Kindertagesstätte sein, und ich werde nicht zur Arbeit gehen. Ich werde jeden Tag sechs ganze Stunden lang ununterbrochen Zeit haben. Und vielleicht werde ich genau diese sechs Stunden täglich – an fünf Tagen – benötigen, um jedes Wort der kompletten Sonntagszeitung zu lesen, aber das ist mir egal. Ich freue mich auf die Herausforderung. Heute ist Donnerstag. Morgen werde ich zum ersten Mal ausprobieren, wie es ist, einen Tag in der Zuflucht meines Wintergartens zu verbringen.
Ich spähe von meinem Platz auf dem Sofa aus durch die Scheiben der Glastür, und mir fällt auf, dass der Wintergarten offenbar umgestaltet wurde. Mein Lieblings-Lesesessel ist herumgedreht und an die Wand geschoben worden, und den Couchtisch sehe ich
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