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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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gar nicht mehr. Stattdessen entdecke ich irgendeine Art von grünblättriger Topfpflanze, die auf dem Boden steht und aussieht, als müsste sie dringend gegossen werden. Das heißt – falls ich dafür zuständig bin –, sie wird binnen einer Woche verdorrt sein. Ich frage mich, wo sie herkommt. Und ist das dort drüben eine Kommode?
    »Mommy!«, brüllt Lucy und rennt zum oberen Treppenende.
    »Langsam«, warnt meine Mutter, die hinter ihr herkommt, Linus auf dem Arm.
    Mir stockt für eine Sekunde der Atem, und ich könnte schwören, mein Herz steht still. Zu hören, wie meine Mutter Lucy bemuttert, zu sehen, wie mein kleiner Sohn zufrieden an ihrer Hüfte hängt, meine Mutter hier zu sehen, wie sie in meinem Haus lebt. In meinem Leben lebt. Ich glaube nicht, dass ich damit klarkomme.
    Lucy reißt beide Babygitter weit auf – fast ohne zu bremsen –, saust durchs Wohnzimmer und springt mit einem Satz auf meinen Schoß.
    »Immer schön sachte, Gänschen«, sagt Bob.
    »Ist schon gut«, beschwichtige ich.
    Sie ist barfuß und lächelt, und ihre Augen strahlen aufgeregt, während sie auf meinem Schoß auf und ab hüpft. Es ist mehr als gut.
    »Mommy, du bist zu Hause!«, sagt sie.
    »Das bin ich allerdings! Ist das neu?« Ich deute auf das Disney-Prinzessinnen-Kleid, das sie trägt.
    »Ja, Oma hat es mir gekauft. Ich bin Belle. Bin ich nicht schön?«
    »Die Allerschönste.«
    »Linus ist das Biest.«
    »Oh, Linus ist zu süß, um das Biest zu sein. Ich glaube, er ist der gut aussehende Prinz«, erwidere ich.
    »Nein, er ist das Biest.«
    »Willkommen zu Hause«, begrüßt mich meine Mutter.
    Die Jugendliche in mir hebt ihren zornigen Kopf und fleht mich mit ihrer unbeholfenen, weinerlichen Stimme an, so zu tun, als hätte ich meine Mutter gar nicht gehört.
    »Danke«, flüstere ich kaum hörbar, der Kompromiss der Erwachsenen in mir.
    »Wie findest du den Baum?«, fragt Bob strahlend.
    »Er ist riesig, ich bin begeistert. Ich wundere mich nur, dass du ihn dieses Jahr nicht im Wintergarten aufgestellt hast, um Linus von ihm fernzuhalten«, antworte ich, während ich mir vorstelle, wie die beiden ständig den unwiderstehlichen Glas- und Keramikschmuck verteidigt haben.
    »Dort ist kein Platz mehr neben dem Bett«, erklärt Bob.
    »Was für einem Bett?«
    »Dem Futonbett. Dort schläft deine Mutter.«
    »Oh.«
    Ich nehme an, das ist sinnvoll. Irgendwo muss sie ja schlafen, und wir haben kein zusätzliches Schlafzimmer (wenn wir dieses zusätzliche Schlafzimmer hätten, dann hätten wir ein Kindermädchen, das bei uns lebt, und dann müsste meine Mutter nicht hier sein). Aber aus irgendeinem Grund hatte ich sie mir auf der Ausziehcouch im Keller vorgestellt, vermutlich weil ich dann – wenn die Tür zum Keller geschlossen ist – so tun könnte, als wäre sie gar nicht da. Selbst wenn die Tür zum Wintergarten geschlossen ist, werde ich sie durch die Fensterscheiben immer noch sehen können. Sie ist hier. Vielleicht können wir ein paar Jalousien kaufen.
    Aber wo werde ich jetzt die Zeitung lesen, meinen Kaffee trinken und mein Erholungsnickerchen machen? Was ist mit meinem Refugium? Die Jugendliche in mir ist empört: Sie hat dir deinen geheiligten Raum gestohlen! Im Ernst, ich weiß nicht, ob ich damit klarkommen kann.
    »Mommy, sieh mal, wie ich tanze!«, fordert Lucy.
    Sie springt hinunter und beginnt, sich im Kreis zu drehen, die Arme über dem Kopf. Meine Mutter legt mir Linus in den Schoß. Er kommt mir schwerer vor, als ich ihn in Erinnerung habe. Er dreht den Kopf, sieht mir in die Augen, berührt mein Gesicht, lächelt und sagt dann: »Mama.«
    »Hi, Schatz.« Ich lege den Arm fester um ihn.
    »Mama«, sagt er noch einmal und tätschelt immer wieder meine Wange.
    »Hi, mein Süßer. Mama ist zu Hause.«
    Er kuschelt sich in meinen Schoß, und wir sehen beide Lucy bei ihrer Aufführung zu. Sie reißt die nackten Füße in die Luft, wackelt mit den Hüften, dreht sich im Kreis und ist voller Freude, ihr sich bauschendes rot-goldenes Kleid vorzuführen. Wir klatschen alle und wollen noch mehr sehen. Stets die Komödiantin, gibt sie gern noch eine Zugabe.
    Mein Blick wandert über Lucys Kopf hinweg durch die Küche zu den Fenstern, die auf den Garten hinausgehen. Die Außenbeleuchtung ist eingeschaltet. Ich sehe die Schaukel und das Spielhaus, in Schnee gehüllt. Ich sehe einen Schneemann, der eine von Bobs Wintermützen trägt, eine Karottennase und mindestens fünf Stöckchen als Arme. Ich sehe einen

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