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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Hausaufgaben sind leicht«, seufzt Charlie.
    »Nicht für mich«, entgegne ich.
    Er legt mein rotes Lesezeichen an den linken Rand seines Hausaufgabenblatts, damit ich ihm folgen kann, und wir beginnen beide zu lesen. Aber binnen Sekunden ist das Auffälligste, was er tut, weder das Lesen noch das Schreiben. Er bewegt sich. Er zappelt auf seinem Platz herum, wippt hin und her, hockt sich auf die Knie, dann wieder auf sein Gesäß, baumelt mit den Beinen. Vor meinem Unfall bin ich immer erst dann mit in Charlies Hausaufgaben eingestiegen, wenn er schon mehrere Stunden damit beschäftigt war und nachdem er bereits von ihnen besiegt worden war. Dann war sein Körper bereits ein lustloser Haufen und hatte nichts mehr von diesem chaotischen, wogenden Energiebündel, das ich jetzt erlebe.
    »Du fällst gleich von deinem Stuhl. Sitz still.«
    »Entschuldigung.«
    Sein inneres Perpetuum mobile ist für eine Minute zum Stillstand gekommen, aber dann zuckt irgendetwas, und schon läuft es wieder im höchsten Gang und mit voller Kraft voraus.
    »Charlie, du zappelst schon wieder.«
    »Entschuldigung«, sagt er noch einmal und sieht zu mir hoch. Seine wunderschönen Augen fragen sich, ob er im Begriff ist, noch eine Murmel zu verlieren.
    Aber ich kann sehen, dass er sich nicht absichtlich so aufführt oder ungehorsam ist. Ich werde ihn nicht dafür bestrafen, dass er herumzappelt. Aber es ist klar, dass er seine Energie nicht auf die Worte vor sich lenken kann, wenn so viel davon kreuz und quer durch seinen Körper schießt.
    »Was hältst du davon, wenn wir deinen Stuhl mal wegnehmen? Kannst du deine Hausaufgaben im Stehen machen?«, frage ich.
    Er schiebt den Stuhl zurück und steht auf, und ich bemerke den Unterschied sofort. Zwar klopft er mit einem Fuß auf den Boden, als würde er mit einer Stoppuhr die Zeit messen, aber davon einmal abgesehen ist kein Zappeln mehr zu sehen. Und er beantwortet die Fragen.
    »Fertig!«, ruft er und wirft seinen Bleistift hin. »Kann ich jetzt Mario spielen?«
    »Augenblick, Augenblick.« Ich lese noch immer die dritte Frage.
    Jane hat beim ersten Spiel zwei Tore erzielt und beim zweiten Spiel vier Tore. Wie viele Tore hat sie insgesamt erzielt? Ich überprüfe seine Antworten.
    »Charlie, die ersten drei Antworten sind alle falsch. Fang noch einmal von vorn an.«
    Er stöhnt und stampft mit dem Fuß auf.
    »Siehst du, ich bin dumm.«
    »Du bist nicht dumm. Sag das nicht. Denkst du etwa, ich bin dumm?«
    »Nein.«
    »Na also. Keiner von uns beiden ist dumm. Unsere Gehirne arbeiten nur anders als die der meisten Leute, und wir müssen uns überlegen, wie wir unsere zum Arbeiten bringen. Aber wir sind nicht dumm, okay?«
    »Okay«, sagt er, ohne mir wirklich zu glauben.
    »Okay. Also, warum hast du sie so schnell gemacht?«
    »Weiß nicht.«
    »Du hast noch jede Menge Zeit, Mario zu spielen. Du musst nichts überstürzen. Lass es uns ein bisschen langsamer angehen und gemeinsam eine Aufgabe nach der anderen lösen. Lies noch einmal die erste.«
    Ich selbst lese sie auch noch einmal. Billy hat zwei Pennys in seiner linken Hosentasche und fünf Pennys in seiner rechten Hosentasche. Wie viele Pennys hat Billy insgesamt? Ich sehe Charlie an und rechne damit, dass er gleich zu mir zurücksieht, gebannt und bereit für meine nächste Anweisung, aber stattdessen liest er noch immer. Und seine Augen scheinen inzwischen irgendwo auf dem unteren Drittel der Seite zu sein.
    »Charlie, fällt es dir schwer, dich nur auf eine Frage zu konzentrieren, wenn auf der Seite so viele stehen?«
    »Ja.«
    »Okay, ich habe eine Idee. Geh und hol die Schere.«
    Ich ziehe mit Charlies Bleistift eine waagerechte Linie unter jede Frage. Er kommt mit der Schere an den Tisch zurück, genau dem Gegenstand, um den ich ihn gebeten habe, was für sich allein schon ein bedeutsamer Sieg ist.
    »Schneide jede Frage aus, entlang der Linien, die ich gezogen habe.«
    Er tut es.
    »Und jetzt leg sie übereinander wie einen Satz Spielkarten, und gib sie mir.«
    Ich reiche ihm als Erstes Frage Nummer sieben. Er klopft mit dem Fuß und liest.
    »Acht?«, fragt er.
    »Richtig!«
    Seine Miene hellt sich auf. Ich würde ihn gern mit einer Hand abklatschen, um ihn zu beglückwünschen, aber ich will nicht, dass er abgelenkt wird oder seinen Schwung verliert. Ich decke eine weitere Karte auf. Er liest sie und zählt flüsternd ab, während er einen Finger nach dem anderen auf den Tisch drückt.
    »Sechs?«
    »Ja!«
    Ohne die anderen Worte,

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