Mehr als nur ein halbes Leben
wie wir es zwei Tage vorher zurückgelassen hatten. Selbst die Bananen in der Obstschale auf dem Küchentresen waren immer noch gelb. Das Einzige, was sich wirklich verändert hatte, war ich. Ich hatte das Haus achtundvierzig Stunden zuvor als hochschwangere Frau verlassen und war (kaum weniger füllig) als Mutter zurückgekehrt. Und doch kam mir das Haus, in dem ich damals seit fast einem Jahr lebte, irgendwie seltsam vor, als wären wir flüchtige Bekannte, die einander zum ersten Mal offiziell vorgestellt wurden.
Heute habe ich genau dasselbe Gefühl. Nur dass ich diesmal nicht die Einzige bin, die sich verändert hat. Während ich zögernd durch den Windfang schlurfe, in der rechten Hand den Gehstock, auf der linken Seite von Bob gestützt, durchflutet mich ein überwältigendes, aber unbestimmtes Gefühl, dass irgendetwas anders ist. Dann, nach und nach, tritt alles zutage, was sich verändert hat.
Die erste Veränderung, die ich bemerke, ist das Orange. In der Küche sind überall leuchtend orangefarbene Streifen zu sehen. Die Wände, die Türrahmen, der Tisch, die Küchenschränke, die Böden – alles ist mit leuchtend orangefarbenem Graffiti bedeckt, als hätte uns der Geist von Jackson Pollock einen inspirierenden Besuch abgestattet. Oder eher, als hätte irgendjemand Charlie einen Eimer orange Farbe in die Hand gedrückt und ihn einen Nachmittag lang unbeaufsichtigt gelassen. Aber bevor ich aufschreien kann, jemand möge bitte ein paar Papiertücher und eine Flasche Clorox holen, dämmert es mir. Diese Streifen sind keine Farbe, und sie sind nicht ohne System. Leuchtend orangefarbenes Klebeband säumt die linke Seite des Türrahmens. Es verläuft am linken Rand der Küchenschränke entlang und über die linke Seite des Kühlschranks. Es bedeckt den Knauf an der Tür, die in den hinteren Garten führt. Und wer weiß, wie viele weitere orangefarbene Klebestreifen an irgendwelchen Oberflächen haften, die ich nicht einmal bemerke? Vermutlich viele, viele mehr.
Dann bemerke ich das Geländer, das an die Wand des Treppenhauses geschraubt wurde. Es ist aus rostfreiem Stahl wie die Haltestangen in Baldwin, völlig anders als das stattliche Eichengeländer auf der anderen Seite. Ich nehme an, das musste sein. Das stattliche Eichengeländer ist auf der rechten Seite, wenn man die Treppe hinaufgeht, aber wenn man hinuntergeht, ist es auf der linken Seite und daher nicht wirklich da. Außerdem ist am Fuß der Treppe ein neues, industriell geprüftes Babygitter installiert worden – und ein zweites am oberen Ende. Im ersten Moment denke ich, dass sie für unseren inzwischen krabbelnden Linus sind, aber dann komme ich auf die Idee, dass sie auch für mich sein könnten. Ohne die Aufsicht eines Erwachsenen dürfen wir beide die Treppe nicht hinauf oder hinunter. Mein Haus ist jetzt babysicher und sarahsicher.
Mein Gehstock und mein rechter Fuß machen die ersten Schritte ins Wohnzimmer und berühren einen Boden, der mir völlig fremd vorkommt.
»Wo sind denn die Teppiche?«, frage ich.
»Auf dem Speicher«, antwortet Bob.
»Ach ja.« Mir fällt wieder ein, dass Heidi uns gesagt hat, wir müssten sie wegnehmen.
Drei handgeknüpfte, teure Orientteppiche. Stolperfallen. Zusammengerollt und weggepackt. Wenigstens sind die Hartholzböden in einem guten Zustand. Um genau zu sein, schimmern sie wunderschön. Ich werfe einen Blick auf das Zimmer. Wenn sie nicht alle irgendwo links von mir auf einem Haufen liegen, sind hier keine Matchboxautos, Prinzessinnen-Krönchen, Puzzleteile, Bälle, Legosteine, Buntstifte, Cheerios, Goldfisch-Cracker, Schnabeltassen oder Schnuller auf dem Boden verstreut.
»Wohnen die Kinder noch hier?«, frage ich.
»Hä?«
»Wo ist denn ihr ganzer Kram?«
»Ach, deine Mutter sorgt hier wirklich für Ordnung. Ihre ganzen Sachen sind entweder oben in ihren Zimmern oder unten im Spielzimmer. Wir können doch nicht zulassen, dass du über Spielzeug stolperst.«
»Oh.«
»Setzen wir dich aufs Sofa.«
Bob ersetzt meinen Gehstock durch seinen Unterarm, schiebt seine andere Hand unter meine Achsel und leistet, was die Therapeuten in Baldwin eine gemäßigte Oberkörper-Assistenz nennen würden. Ich lasse mich tief in das Plüschkissen sinken und atme aus. Vermutlich haben wir eine Viertelstunde gebraucht, um von der Auffahrt ins Wohnzimmer zu kommen, und ich bin fix und fertig. Ich versuche, nicht daran zu denken, wie leicht, wie unbewusst ich früher immer ins Haus gestürmt bin und wie viel
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