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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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ich.
    Charlies Aufgabe besteht darin, bis zu fünf rote Gummibälle – von denen jeder etwa so groß ist wie eine Klementine – auf die linke Seite meines Tabletts zu legen. Meine erste Aufgabe besteht darin zu erkennen, wie viele Bälle es sind.
    »Fertig«, verkündet er.
    Ich beginne meine Hausaufgabe, indem ich mit der rechten Hand am unteren Rand des Tabletts entlangfahre, sie nach links bewege, bis ich den rechten Winkel der unteren linken Ecke spüren kann. Ein unbehagliches Gefühl beschleicht mich jedes Mal, wenn ich meine eigene Mittellinie mit der rechten Hand überquere und sie irgendwo im unbekannten Land des Links verschwinden lasse. Das Gefühl erinnert mich an eine Vertrauensübung, an der ich einmal im Rahmen eines Angestellten-Workshops bei Berkley teilgenommen habe. Stehend und mit geschlossenen Augen sollte ich mich damals nach hinten fallen lassen und darauf vertrauen, dass meine Kollegen mich auffangen würden. Ich kann mich immer noch an jenen Sekundenbruchteil erinnern, in dem ich nicht sehen oder steuern konnte, wie und wo ich landen würde, bevor ich mich fallen ließ. Ich wollte nicht wegen einer albernen Übung mit dem Kopf auf den harten Boden aufschlagen, sodass sich mein gesunder Menschenverstand und ein primitiver Instinkt einschalteten: Tu das nicht . Aber irgendwo in meinem Innern war ich doch in der Lage, auf den Ausschaltknopf zu drücken. Und natürlich fingen meine Kollegen mich auf. Eine ganz ähnliche Erfahrung mache ich jetzt, wenn meine rechte Hand die orangefarbene Linie überquert. Instinktive Angst, innerer Mut, blindes Vertrauen.
    Jetzt sehe ich rechts neben meine rechte Hand, was mir natürlich und leicht vorkommt, und doch die linke Seite des Tabletts ist.
    »Vier«, sage ich.
    »Ja! Gut gemacht, Mom!«, lobt Charlie. »Schlag ein!«
    Die Bälle zu finden ist der leichteste Teil meiner Hausaufgabe und kein Grund zum Feiern, aber ich will ihm nicht den Spaß daran verderben, mich zu ermutigen. Ich lächele und schlage kurz ein.
    »Mit der linken Hand«, sagt Charlie.
    Er liebt es, mich zu fordern. Für den nächsten Teil dieser Übung muss ich sowieso meine linke Hand finden, daher tue ich ihm den Gefallen und beginne mit der Suche. Ich finde sie an meiner Seite baumelnd und schaffe es, sie zu heben, aber ich kann nicht genau sagen, wo sie jetzt ist. Charlie wartet, hält mir seine gespreizte Hand als Ziel hoch. Aber er benutzt seine rechte Hand, die auf meiner linken Seite ist, sodass sie nicht so leicht im Auge zu behalten ist. Charlie könnte locker der härteste Ergotherapeut sein, den ich je hatte. Ohne auch nur das geringste Vertrauen darin zu haben, dass ich es schaffen könnte, schwinge ich meinen Arm aus der Schulter nach vorne. Ich verfehle seine Hand und treffe ihn genau in die Brust.
    »Mom!«, lacht er.
    »Entschuldige, Schatz.«
    Er knickt meinen Arm am Ellenbogen ab, als wäre ich eine seiner Actionfiguren, spreizt meine Finger auseinander, holt aus und schlägt meine Hand gegen seine, sodass sie mit einem lauten und befriedigenden Klatschen aufeinandertreffen.
    »Danke. Okay, nächster Schritt«, beschließe ich, um endlich fertig zu werden.
    Jetzt muss ich mit der linken Hand einen der roten Bälle nehmen und zusammendrücken. Die Innenfläche meiner linken Hand kribbelt noch immer von Charlies Abklatschen, was mein Glück ist, denn das verhindert, dass meine Hand verschwindet, und ich kann sie relativ leicht auf das Tablett legen. Ich taste herum und schnappe mir den nächstbesten Ball. Dann drücke ich ihn schwach.
    »Ja, Mom! Und jetzt leg ihn zurück.«
    An dem Punkt bleibe ich jedes Mal hängen. Ich kann den Ball nicht loslassen. Ich werde den Ball mit ins Bett nehmen, ohne mir dieses blinden Passagiers überhaupt bewusst zu sein, den ich da mit mir herumschleppe. Am nächsten Morgen werde ich mit ihm aufwachen und ihn noch immer fest in meinem eisernen Griff haben – es sei denn, jemand kommt und befreit ihn gnädigerweise aus meiner Umklammerung.
    »Ich kann nicht. Ich kann nicht loslassen.«
    Ich versuche, den Ball abzuschütteln, aber mein Griff ist zu fest. Ich versuche, meine Hand zu entspannen. Nichts geschieht. Meinem Gehirn war das Festhalten schon immer lieber als das Loslassen.
    »Charlie, kannst du mir helfen?«
    Er windet mir den Ball aus meiner steifen Hand, lässt ihn auf das Tablett fallen und schiebt es auf die andere Seite des Tischs. Jetzt ist er an der Reihe.
    »Ich wünschte, ich hätte deine Hausaufgaben. Deine

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