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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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schaffen.
    Bob öffnet meine Tür, schnallt mich ab (wir würden unseren Tisch auf jeden Fall verlieren, wenn ich mich selbst abschnallen müsste), hebt mich unter den Achseln hoch und aus dem Wagen und stellt mich auf den Gehsteig, wo mein Stock schon bereitsteht und auf mich wartet. Ich schnappe mir meinen Stock, und Bob schnappt sich meinen linken Arm.
    »Können wir, meine Verehrte?«, fragt er.
    »Wir können.«
    Und dann zuckeln wir los, zwei Schildkröten, die zum Abendessen hetzen. Ich war nie langsam zu Fuß. Ich schlendere und bummele nicht vor mich hin. Ich schalte in den fünften Gang, und los geht’s. Und damit bin ich in dieser Gegend nicht die Einzige. Ich glaube, die meisten Leute in Boston haben einen zügigen, entschlossenen Gang. Wir haben Dinge zu erledigen – wichtige Dinge und viele Dinge –, und wir sind spät dran. Wir haben keine Zeit, herumzutrödeln, ein Schwätzchen zu halten oder an den Rosen zu schnuppern. Das mag selbstgefällig, unhöflich oder sogar ignorant klingen, aber das ist es nicht. Vermutlich sind wir nur praktisch und verantwortungsbewusst und versuchen einfach, mit allem Schritt zu halten, was von uns verlangt wird. Und von November bis Mai blühen diese Rosen sowieso nicht. Draußen ist es eiskalt, und wir laufen, so schnell wir können, um wieder nach drinnen zu kommen, wo es schön warm ist.
    Wie zum Beispiel heute Abend. Heute Abend ist die Temperatur auf unter null Grad gesunken, und der Wind, der durch die Main Street peitscht, geht einem durch Mark und Bein. Und es wird auch nicht besser dadurch, dass ich nur die obersten beiden Knöpfe meines Wollmantels zugeknöpft habe, bevor ich aufgegeben und mir gedacht habe: Wir werden ja kaum eine Sekunde draußen sein . Wenn ich keinen Neglect hätte, hätte ich nichts gegen einen kurzen Sprint einzuwenden. Aber ich habe einen Neglect, daher schlurfen wir langsam vorwärts. Stock. Schritt. Nachziehen. Atmen.
    Die Gehsteige sind gepflastert und unberechenbar holprig, und sie fallen an jeder Querstraße erst ein Stück ab, um dann wieder anzusteigen, sodass dieses Gelände eine weitaus größere Herausforderung für mich ist als die Korridore mit den gelben Linien in Baldwin oder unser teppichfreier Wohnzimmerboden. Bei jedem Schritt und jedem Nachziehen danke ich Gott für meinen Gehstock und für Bob. Ich weiß, ohne die beiden würde ich längst ausgestreckt auf der kalten, harten Erde liegen, gedemütigt und zu spät für das Abendessen.
    Da es die Woche vor Weihnachten ist, ähneln die Gehsteige noch mehr als sonst Hochgeschwindigkeitsfließbändern für Konsumenten. Entgegenkommende Einkäufer schießen in einem beneidenswerten Tempo an uns vorbei, während die Fußgänger hinter uns ins Stocken geraten und ungeduldig an unseren Fersen kleben, bis es ihnen eine kurze Lücke auf der Gegenspur ermöglicht, sich an uns vorbeizuschlängeln. Die demografische Struktur ist typisch: Frauen mit frisch manikürten Nägeln und frisch frisierten Haaren, Einkaufstüten irgendwelcher Modeboutiquen um einen Ellenbogen geschlungen, eine protzige, aber teure Handtasche um den anderen, und dazu Jugendliche, immer in Cliquen von dreien oder mehr, immer mit iPods und iPhones und Mocha-Frappuccinos in den Händen. Und alle geben jede Menge Geld aus.
    In den seltenen Momenten, in denen ich hier und da einen Blick auf das entgegenkommende Gedränge werfe, fällt mir auf, dass mich niemand direkt ansieht. Alle, die an uns vorübergehen, haben entweder einen Tunnelblick, der gebannt auf irgendeinen winzigen Punkt in gerader Linie vor ihnen irgendwo in der Ferne gerichtet ist, oder sie sehen zu Boden. Verlegene Unsicherheit breitet sich in meinem Magen aus und verkriecht sich dann in eine Ecke. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Man hat mir vielleicht kein Strichmännchen in einem Rollstuhl auf die Stirn tätowiert, aber ich bin behindert. Diese Leute sehen mich nicht an, weil mein Anblick ihnen zu unangenehm ist. Fast sage ich Bob, dass ich wieder nach Hause will, aber dann rufe ich mir in Erinnerung, dass die meisten Leute in der Innenstadt von Welmont (ich selbst eingeschlossen) normalerweise ohnehin nie Blickkontakt zu irgendjemandem aufnehmen – vor allem nicht, wenn sich diese Leute an einem kalten Abend über einen brechend vollen Gehsteig kämpfen, was hier offensichtlich der Fall ist. Es ist nicht persönlich gemeint. Die verlegene Unsicherheit in meinem Magen entschuldigt sich und verschwindet, lässt nur noch ein starkes

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