Mehr als nur ein halbes Leben
Sarah.«
»Okay.« Ich weiß, dass er es nur gut meint, aber ich fühle mich trotzdem eher bedroht als ermutigt.
Bob lehnt meine neuen Skier gegen den Küchentisch mir gegenüber. Vermutlich, damit ich sie sehen und darüber nachdenken kann, was ich verpasse – als Konsequenz meiner Entscheidung. Ich küsse Bob und die Kinder zum Abschied, wünsche ihnen viel Spaß und alles Gute und höre, wie sie mit ihren Nylon-Skianzügen rascheln und mit ihren schweren Stiefeln zur Tür hinausstapfen.
Dann höre ich den Wagen wegfahren, seufze und stelle mich auf einen schönen, stillen Vormittag mit Lesen ein. Ich suche die Stelle, an der ich meine Zeitungslektüre unterbrochen habe. Ich lese ein paar Worte und sehe über den Tisch zu meinen glänzenden neuen Skiern hinüber. Hört auf, mich anzustarren. Wir fahren heute nicht Ski . Ich lese noch ein paar Worte. Meine Mutter scheppert in der Spüle mit Tellern und Töpfen. So kann ich mich nicht konzentrieren. Ich brauche einen Kaffee.
Ich habe Bob zu Weihnachten eine neue Kaffeemaschine geschenkt, die Impressa S9 One Touch, die allerbeste, modernste Maschine für Cappuccino, Café Mocha Latte, Latte Macchiato. Sie war sündhaft teuer, daher war es kein sehr kluger Kauf in Anbetracht unserer gegenwärtigen finanziellen Lage, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Wenn man auf einen einzigen Knopf auf ihrer polierten Oberfläche aus rostfreiem Stahl drückt, mahlt sie Bohnen, schäumt Milch auf und brüht Kaffee in genau der gewünschten Temperatur, Menge und Stärke. Sie ist selbstreinigend und rühmt sich, die leiseste Kaffeemaschine zu sein, die es im Moment gibt, und sie sieht einfach so schön aus auf unserem Küchentresen. Sie ist wie ein perfektes Kind – gepflegt und gut erzogen, tut genau das, was wir wollen, erledigt ihre Aufgaben, ohne dass man es ihr auch nur sagen muss, und bereitet uns nichts als Freude.
Bob und ich haben gestern bis zum Umfallen Kaffee getrunken. Ich muss mindestens ein Dutzend Mal gepinkelt haben – einschließlich der drei Male, die wir auf dem Weg nach Cortland anhalten mussten (Bob war drauf und dran, mir Windeln anzulegen) –, und dann lag ich hellwach im Bett, während das Koffein noch immer in meinen Adern verrücktspielte, außerstande, meine umherschwirrenden Gedanken anzuhalten, Stunden nachdem ich längst hätte schlafen sollen. Aber das war es wert.
Da wir beide den Gedanken nicht ertragen konnten, das Wochenende getrennt von unserem neuen Baby zu verbringen, haben wir die Impressa mit nach Vermont genommen. Aber leider haben wir irgendwie vergessen, Kaffeebohnen einzupacken, und das nächste Lebensmittelgeschäft hier oben, in dem es einen Kaffee gibt, der es wert ist, mit der Impressa in Kontakt zu kommen, ist in St. Johnsbury, etwa zwanzig Meilen südlich von uns. Sosehr ich mich auch nach einem weiteren perfekten Latte Macchiato sehne – und danach, dieses kräftige, tröstliche Aroma im ganzen Haus zu riechen –, der schnellste Weg zu einer Tasse Kaffee (und der Erlösung von den Koffeinentzugskopfschmerzen, die in meinen Schläfen die Schrauben andrehen) führt heute Morgen zum B&C’s-Café.
»Mom?«, rufe ich über die rechte Schulter in die Küche hinter mir, wo sie das Geschirr abspült. »Könntest du kurz zum B&C’s fahren und mir einen großen fettfreien Latte besorgen?«
Sie ist gestern Abend in ihrem VW hinter uns hergefahren, damit wir hier einen Wagen haben, während Bob unter der Woche fort ist.
»Ist das im Dorf?«
»Ja.«
Alles ist im Dorf. In Cortland gibt es nur eine einzige Ampel, und die wenigen Landstraßen führen alle entweder zum Dorf, zum Berg oder zum Highway. Und das Dorf selbst ist nicht mehr als ein kurzes Stück Main Street mit einer Handvoll überwiegend altmodischer Tante-Emma-Läden links und rechts, in denen Quiltdecken, Cheddarkäse, Fudge und Ahornsirup verkauft werden. Außerdem gibt es im Dorf ein Sportartikelgeschäft, die einzige Tankstelle, eine Kirche, eine Bücherei, das Rathaus, eine Handvoll Restaurants, eine Kunstgalerie und das B&C’s. Meine Mutter ist noch keine vierundzwanzig Stunden hier, und schon scheint sie mit den Örtlichkeiten bestens vertraut zu sein, selbst ohne Bobs Navigationsgerät. Ein Fünfjähriger könnte sich hier zurechtfinden. Verdammt, selbst eine Siebenunddreißigjährige mit einem linksseitigen Neglect könnte es vermutlich ohne Zwischenfall ins Dorf und wieder zurück schaffen.
»Kommst du ohne mich hier zurecht?«, fragt
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