Mehr als nur ein halbes Leben
sie.
»Na klar. Es ist ja nur für ein paar Minuten.«
Sie ist nicht überzeugt.
»Ich lese die Zeitung. Linus schläft. Kein Problem.«
»Okay«, willigt sie ein. »Ich bin gleich wieder da.«
Ich höre die Tür hinter ihr zufallen und dann ihren Wagen wegfahren. Ich lächle. In ein paar Minuten werde ich eine dampfende, heiße Tasse Kaffee haben. Und etwa zur selben Zeit werden Charlie und Lucy vermutlich ihren Ganztags-Skiunterricht beginnen, und Bob wird mit dem Sessellift zum Gipfel hochfahren. Ich wundere mich, dass ich mich nicht ausgeschlossen fühle oder auch nur ein winziges bisschen neidisch bin. Der Blick vom Gipfel des Mount Cortland auf die schneebedeckten Baumwipfel, die majestätischen Green Mountains, die Gletscherseen und das sanft geschwungene Tal darunter ist atemberaubend. In das weiche Licht des frühen Morgens getaucht, wirkt vom Gipfel aus die ganze Welt leise, friedlich und still. Herrlich. Ich werde dorthin kommen. Ganz bestimmt.
In der Zwischenzeit, während Linus schläft und alle anderen weggefahren sind, ist es auch hier unten leise, friedlich und still. Ich sehe durch die Glasschiebetür, die auf den Garten hinausgeht – drei Acre weitläufige Wiesenfläche, die an ein bewaldetes Naturschutzgebiet grenzt. Ein Zickzackmuster von Tierspuren, vermutlich von Hirschen, durchzieht die ansonsten unberührte glatte Schneedecke. Es gibt keinen Lattenzaun, der Wildtiere fernhält, unsere Kinder einpfercht oder die Panoramasicht behindert. Das nächste Nachbarhaus kann man nur sehen, wenn man vor der Tür steht, und auch dann nur, wenn die Blätter aller Ahornbäume abgefallen sind. Das Leben hier ist privat, ruhig und hat Platz. Herrlich.
Seit sechs Tagen lese ich dieselbe Zeitung. Inzwischen bin ich beim Sonntags-Wirtschaftsteil angelangt. Dem letzten Teil. Halleluja. Ehrlich gesagt habe ich nicht jedes Wort in jedem anderen Teil gelesen. Aber ich habe den Großteil der Titelberichte gelesen. Das hat den ganzen Sonntag und fast den ganzen Montag gedauert. Diese Artikel sind anspruchsvoll und anstrengend und handeln im Allgemeinen von Armut, Korruption, Ruin und politischen Schuldzuweisungen auf nationaler und internationaler Ebene. Ich fühle mich informiert, nachdem ich diese Seiten gelesen habe, aber nicht unbedingt besser wegen des Aufwands.
Den Sportteil habe ich ganz ausgelassen. Ich interessiere mich einfach nicht für die NFL, NHL, NBA und wie sie alle heißen. Das habe ich noch nie getan. Ich habe den Sportteil noch nie gelesen, und ich werde auch jetzt nicht damit anfangen, nur um irgendein Typ-A-Bedürfnis zu befriedigen und mir zu beweisen, dass ich die ganze Sonntagszeitung lesen kann. Ausgelassen habe ich außerdem die Buchbesprechungen (da die Zeitung auch so schon anspruchsvoll genug ist) und die Modeseiten (da ich zu Hosen mit elastischem Bund und Slippern verdonnert worden bin). Das Vor-dem-Unfall-Ich schüttelt missbilligend den Kopf, droht mir mit dem Zeigefinger und nennt mich einen Drückeberger. Aber das Nach-dem-Unfall-Ich befiehlt ihm in einem entschiedenen Tonfall, der keinen Widerspruch duldet, locker zu bleiben und den Mund zu halten. Das Leben ist vielleicht nicht zu kurz, um die ganze Sonntagsausgabe der New York Times zu lesen, aber die Woche ist es mit Sicherheit. Zumindest für mich. Auslassen, auslassen, auslassen!
Der Wirtschaftsteil ist mit Abstand mein Lieblingsteil, und das nicht nur, weil er der letzte ist. Da Berkley-Berater jede Branche in so ziemlich jeder Industrienation bedienen, sind fast alle Berichte in diesem Teil in irgendeiner Weise relevant für einen ehemaligen, aktuellen oder künftigen Berkley-Fall. Fast jeder Artikel ist eine verlockende Kostprobe der saftigen, gepfefferten, bittersüßen Unternehmenswelt, in der ich früher zu Hause war und die ich so liebte. Die Wall Street, der Handel mit China, die Autoindustrie, große Pharmakonzerne, Brennstoffzellen-Technologie, Marktanteile, Fusionen und Übernahmen, Gewinne und Verluste, Börsengänge – im Wirtschaftsteil fühle ich mich zu Hause.
Und vermutlich, weil ich den Inhalt liebe, fällt es mir am leichtesten, diesen Teil zu lesen. Hm. Ich sehe hoch zu meinen glänzenden neuen Skiern. Vielleicht ist an Bobs Theorie über das Skifahren als Therapie doch etwas dran – dass ich vielleicht leichter gesund werden und wieder normal funktionieren werde, wenn ich mich in etwas stürze, was mich begeistert, anstatt pflichtschuldig irgendeiner bedeutungslosen, emotional leeren Aufgabe
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