Mehr als nur ein halbes Leben
einen Blick über die Schulter, mustere sie unauffällig, und mein verunsichertes Ego geht davon aus, dass sie über mich lachen: eine siebenunddreißigjährige Frau, die ihr Fleisch nicht selbst klein schneiden kann. Die junge Frau lacht noch immer, wischt sich die Tränen aus den Augen, und der junge Mann grinst, während er sein Glas Champagner erhebt. Ich habe keine Ahnung, was so witzig war, aber ich war es eindeutig nicht. Die beiden sind so ineinander vertieft, dass ihnen vermutlich gar nicht aufgefallen ist, dass Bob und ich hier sind. Ich muss mich zusammenreißen.
»So, bitte sehr«, sagt Bob und tauscht unsere Teller noch einmal.
»Danke.« Ich komme mir noch immer ein bisschen dämlich vor.
Ich spieße ein Stück meines vorgeschnittenen Rinderfilets auf und stecke es mir in den Mund. Bob tut dasselbe mit einer Muschel.
»Wie schmeckt’s?«, fragt Bob.
»Himmlisch.«
Wir essen auf, sind zu satt für ein Dessert und warten auf die Rechnung. Mein Glas Wein war, wie sich herausstellt, doch keine so gute Idee, nicht weil ich beschwipst bin (das bin ich tatsächlich ein bisschen), sondern weil ich jetzt auf die Toilette muss und es unmöglich noch aushalten kann, bis wir zu Hause sind. Aber ich will wirklich keine öffentliche Toilette benutzen. Ich versuche es mir aus dem Kopf zu schlagen und an etwas anderes zu denken. Ich will wirklich bald nach Vermont fahren. Ich will wirklich bald wieder arbeiten. Ich will wirklich nach Hause fahren und auf die Toilette gehen . Es nützt nichts. Ich werde es nicht vier Blocks weit und dann noch die ganze Autofahrt lang aushalten. Wenn ich dachte, der Anblick einer siebenunddreißigjährigen Frau, die sich von ihrem Mann das Fleisch klein schneiden lassen muss, sei peinlich, dann will ich mir den Anblick einer siebenunddreißigjährigen Frau, die sich mitten im Pisces in die Hose macht, lieber gar nicht erst vorstellen. Dann würde das junge Paar neben uns wirklich lauthals losprusten.
»Bob? Ich muss auf die Toilette.«
»Äh, okay. Dann bringen wir dich dahin.«
Ich könnte schwören, das junge Paar bemerkt uns noch immer nicht, als wir uns an ihm vorbeischlängeln, durch das Labyrinth von Tischen, durch einen schmalen Durchgang, wo wir einer Bedienung mit einem Tablett voller Essen und einer Miene kaum verhohlenen ungeduldigen Ärgers in die Quere kommen, und weiter in einen leeren Korridor. Stock. Schritt. Nachziehen. Atmen. Halten.
Vor der Tür zur Damentoilette bleiben wir stehen.
»Schaffst du’s ab hier allein?«, fragt Bob.
»Kommst du nicht mit rein?«
»Auf die Damentoilette? Das kann ich nicht machen.«
»Klar kannst du das. Niemand wird darauf achten.«
»Na schön, dann gehen wir auf die Herrentoilette.«
»Nein, schon gut. Aber was, wenn ich dich da drinnen brauche?«
»Dann rufst du mich.«
»Und du wirst kommen, wenn ich dich rufe?«
»Ich werde kommen, wenn du mich rufst.«
»Und du wartest genau hier vor der Tür?«
»Ich warte genau hier.«
»Okay. Los geht’s.«
Bob hält mir die Tür auf, und ich gehe zögernd hinein. Die Waschbecken sind vor mir und auf der rechten Seite, was heißt, dass die Kabinen irgendwo links von mir sein müssen. Natürlich. Sieh nach links, such links, geh nach links. Ich finde die Kabinen. Es gibt drei normale Kabinen und eine Behindertenkabine. Die Behindertenkabine ist groß, mit reichlich Platz, um hineinzukommen und sich umzudrehen, und sie wäre die Kabine, in die mich jeder meiner Therapeuten schicken würde. Aber sie ist auch die hinterste, und ich muss wirklich dringend pinkeln. Und ich bin nicht behindert.
Ich schaffe es zu der vordersten Kabine und drücke die Tür auf, indem ich mit meinem Gehstock einen Schritt nach vorn mache. Sie schwingt auf, und dann schwingt sie wieder zurück, sodass sie gegen meinen Gehstock knallt. Langsam gehe ich weiter vor, bis ich mich nicht mehr bewegen kann, und stehe jetzt genau vor der Toilette. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich, ich wäre ein Mann.
Aber ich bin kein Mann, und daher beginnt jetzt der mühsame Versuch, mich umzudrehen und zu setzen. Das ist immer der Augenblick, wo die Haltestangen in Baldwin – und die, die jetzt in unseren Badezimmern zu Hause angebracht sind – wie durch Zauber genau an der richtigen Stelle aufzutauchen scheinen, genau dort, wo ich mich an ihnen festklammern muss, als hinge mein Leben davon ab. Auf einer öffentlichen Toilette gibt es keine so großzügig angebrachten Haltegriffe. Die Tür hat keinen
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