Mehr als nur ein halbes Leben
nachzugehen.
»Ich weiß, ihr könnt es kaum noch erwarten, endlich zu fahren, aber ich brauche noch ein bisschen Zeit«, sage ich zu meinen Skiern. Ich könnte schwören, sie sehen enttäuscht aus.
Mir ist aufgefallen, dass ich inzwischen jedes Wort auf der Seite lesen kann, und diese aufregende Entwicklung ist nicht auf den Wirtschaftsteil beschränkt. Neben dem roten, senkrechten Lesezeichen für den linken Rand, das ich aus Baldwin mit nach Hause genommen habe, benutze ich jetzt noch ein zweites Lesezeichen – ein normales weißes Papplesezeichen aus der Buchhandlung in Welmont –, das ich waagerecht unter jede Textzeile lege, die ich lese. Wenn ich zum Ende der Zeile komme, gehe ich nach links über die Wörter, die ich eben gelesen habe, bis ich auf Rot stoße, dann schiebe ich das weiße Lesezeichen ein Stück hinunter und beginne, die nächste Zeile zu lesen. Ich komme mir vor wie das Typenrad einer Schreibmaschine, wenn ich das tue, und in meinem Kopf ertönt sogar jedes Mal das Doing! , wenn ich zurück nach links und dann nach unten gehe.
Ohne das waagerechte Lesezeichen habe ich mich oft hoffnungslos auf der Seite verloren, während ich versuchte, zurück zum linken Rand zu kommen. Ich habe es bis zu dem roten Lesezeichen geschafft, aber wie bei einem schlechten Schwimmer, der versucht, auf einer geraden Bahn durch eine starke Meeresströmung zu schwimmen, wurde meine Konzentration dabei jedes Mal nach oben oder unten abgelenkt, manchmal ganze Absätze weit weg von den Worten, die ich eben gelesen hatte. Und ich wusste immer, dass ich irgendwo weit ober- oder unterhalb meines angepeilten Ziels war, weil der Satz, den ich las, auf einmal zu völlig unverständlichem Unsinn wurde. Das zusätzliche Lesezeichen hält mich auf der Linie. Interessanterweise kam die Idee mit diesem zweiten Lesezeichen weder von Martha noch von Heidi oder Bob oder irgendeinem meiner ambulanten Therapeuten. Sie kam von Charlie. So liest er. Und jetzt lesen wir beide so.
Dank dieser Technik würde ich meine Lesegenauigkeit und daher auch mein Verständnis wieder als normal betrachten. Was eine unglaublich tolle Neuigkeit ist. So unglaublich toll sogar, dass ich Luftsprünge machen (im übertragenen Sinn natürlich) und Richard anrufen sollte, um ihm Bescheid zu geben, dass ich wieder gesund und bereit bin, zur Arbeit zurückzukommen. Aber ich habe noch niemandem von meiner unglaublich tollen Neuigkeit erzählt, nicht einmal Bob.
Ich verstehe den Grund für meine eigene untypische Geheimnistuerei gar nicht. Ich glaube, es ist, weil ich weiß, dass ich noch immer nicht bereit bin. Meine Lesegeschwindigkeit ist noch immer viel, viel langsamer, als sie einmal war. Und wo ich einen Text früher nur überflogen habe, traue ich mich das heute nicht. Ich lese jedes einzelne Wort, was zwar gut für die Genauigkeit ist, aber tödlich für die Effizienz. Lesen, nach links gehen, doing, nach unten, lesen. Es klappt, aber es ist ein langwieriger Prozess, und in dem Tempo würde ich die tägliche Flut von E-Mails und Papierkram bei Berkley niemals bewältigen können. Mein Job hat ohnehin schon siebzig bis achtzig Wochenstunden, ohne Pausen. Da ist kein Platz, um einen Gang zurückzuschalten. Daher wäre es verfrüht, meine Rückkehr anzukündigen – und klüger, den Mund zu halten.
Aber der eigentliche Grund, warum ich zögere, der Welt meine neu gewonnene Lesefähigkeit zu verkünden, hat – so scheint es mir – nichts mit verantwortungsbewusster Vorsicht oder der Befürchtung, dass ich möglicherweise das nötige Tempo niemals wieder aufnehmen kann, zu tun. Und es ist mit Sicherheit nicht so, dass ich einfach bescheiden wäre oder gern etwas für mich behalten würde. Ehrlich gesagt prahle ich im Allgemeinen so schamlos mit meinen Erfolgen, dass es fast schon unerträglich ist – vor allem vor Bob, der immer stolz ist, wenn er so etwas hört. Aber im Moment will ich noch niemandem etwas davon sagen, und bis ich es tue, werde ich auf meinen Instinkt hören und meine unglaublich tolle Neuigkeit für mich behalten.
Ich lese den Wirtschaftsteil zu Ende und blättere die letzte Seite der Zeitung um. Fertig! Na ja, bis auf den Sportteil und die Modeseiten und die Buchbesprechungen. Pst! Wohl kaum ein Grund zu feiern . Pst! Du hast sieben Tage dafür gebraucht! Du solltest das an einem einzigen Vormittag lesen können . Pst, pst, pst! Ich verscheuche das Vor-dem-Unfall-Ich aus meinen Gedanken und bestehe stattdessen darauf, mich
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