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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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ich.
    »Warum sind wir denn dann hier, wenn du nicht Ski fahren willst?«, fragt er.
    »Mir gefällt es hier.«
    »Komm schon, ich finde, du solltest es versuchen«, meint Bob.
    »Wie soll ich denn Ski fahren? Ich kann ja nicht mal laufen.«
    »Vielleicht ist es leichter als zu laufen.«
    »Wie soll das denn möglich sein?«
    »Ich weiß nicht, vielleicht solltest du, um deine linke Seite wiederzufinden, nicht Bälle von einem Tablett hochheben. Vielleicht solltest du wieder anfangen, die Dinge zu tun, die dir Spaß machen.«
    Vielleicht. Vielleicht würde das Skifahren diesen schlummernden Teil meines Gehirns wecken, der offenbar nicht im Geringsten dafür zu begeistern ist, rote Bälle aufzuheben. Vielleicht könnte ich einfach auf meinen neuen K2s den Mount Cortland hinunterwedeln, und meine linken und rechten Gliedmaßen würden ganz natürlich zusammenarbeiten und mich sicher ins Tal bringen. Aber vielleicht – und das ist eher anzunehmen – würde ich auch stürzen und mir ein Bein brechen oder einen Bänderriss im Knie zuziehen. Oder ich würde von der Piste abkommen und gegen einen Baum krachen. Meine Therapie mit den roten Bällen ist vielleicht nicht die Wunderwaffe für meine Heilung, aber immerhin birgt sie nicht das Risiko, dass ich in einem Rollstuhl enden und noch abhängiger von meiner Mutter werden könnte, als ich es ohnehin schon bin.
    »Was ist denn das Schlimmste, was passieren kann?«, fragt Bob.
    Zwei gebrochene Beine. Noch eine Gehirnverletzung. Tod. Bob sollte wissen, dass er nicht ausgerechnet mir eine so krasse Frage stellen sollte, in der so viel drohendes Unheil anklingt. Ich lege den Kopf schief und ziehe die Augenbrauen hoch. Bob sieht, dass er die falsche Taktik angewendet hat.
    »Man kann nur herausfinden, ob man das Pferd wieder reiten kann, indem man sich noch einmal in den Sattel schwingt«, sagt Bob.
    Ein lahmes Cowboy-Klischee. Ich schüttele den Kopf und seufze.
    »Komm schon. Versuch’s wenigstens. Wir können es ganz langsam angehen. Wir werden mit den Kindern auf der Anfängerpiste bleiben. Ich werde dich festhalten und die ganze Zeit bei dir sein.«
    »Bob, sie ist noch nicht bereit zum Skifahren. Sie könnte sich ein Bein brechen«, meldet sich meine Mutter.
    Sie steht hinter mir in der Küche und räumt das Frühstücksgeschirr weg. Sie hat Buttermilchpfannkuchen und Würstchen gemacht. Es ist ein seltsames Gefühl, meine Mutter hierzuhaben und zu sehen, wie sie das Frühstück für meine Familie macht. Und es ist ein seltsames Gefühl zu hören, wie sie mich in Schutz nimmt, einer Meinung mit mir ist. Aber ich muss zugeben, ihre Pfannkuchen sind köstlich, und die von ihr geäußerte Besorgnis liefert mir die bestmögliche Ausrede, um im Pyjama zu Hause zu bleiben. Es tut mir leid, meine Mutter sagt, ich kann nicht fahren .
    »Du wirst dir nichts brechen. Ich verspreche dir, ich werde bei dir bleiben«, sagt Bob.
    »Es ist noch zu früh. Du machst zu viel Druck«, entgegne ich.
    »Du brauchst hier ein bisschen Druck. Komm schon, ich glaube, es wird dir guttun.«
    Das Skifahren würde mir guttun. Aber selbst wenn ich die Möglichkeit, zu sterben oder mich ernsthaft zu verletzen, ausschließe, kann ich mich trotzdem nur als einen ständig verhedderten Knoten aus Skiern und Beinen sehen. Ich sehe, wie meine Skibindungen bei jedem peinlichen Sturz aufspringen werden, wie unmöglich es mir sein wird, an einem rutschigen Abhang mit dem linken Fuß das Gleichgewicht zu halten, während ich versuche, mit dem rechten Stiefel wieder in die Bindung zu kommen. Dazu kommt der ebenso unerträgliche Gedanke, mit dem rechten Fuß das Gleichgewicht zu halten, während ich versuche, einen kaum reagierenden linken Fuß mit den Zehen voran in die Bindung meines linken Skis zu locken. Nicht eine Sekunde von alldem hört sich für mich nach Spaß an. Und als Skifahren kann man es auch kaum bezeichnen.
    »Ich will nicht.«
    »Du weißt aber schon, dass du es warst, die gesagt hat, sie will dieses Jahr Ski fahren«, erinnert mich Bob.
    »Diesen Winter «, berichtige ich ihn. »Das stimmt. Das werde ich auch. Aber nicht heute.«
    Er starrt mich an, die Hände in die Hüften gestemmt, und denkt nach.
    »Okay, aber du kannst dich nicht ewig im Haus verkriechen«, sagt er mit einem Seitenblick auf meine Mutter. »Du musst wieder mit den ganzen Dingen anfangen, die du früher gemacht hast – deinem Job, dem Skifahren. Wir werden dich noch in diesem Winter auf diesen Berg bringen,

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