Mehr als nur ein Zeuge
Eine Idee, die sich in England wohl nicht durchsetzen wird, aber in meiner jetzigen Lage finde ich sie gar nicht so abwegig. Auf die Weise wissen andere Leute gleich von Anfang an etwas über dich, ohne groß Fragen stellen zu müssen. Außerdem vergisst man die Toten garantiert nicht und trägt die Wahrheit buchstäblich mit sich herum.
Obwohl, manche Verluste verdienen nicht gleich einen ganzen Finger. Als Dad uns verlassen hat, war ich gerade mal zwei, er ist einfach so aus meinem Leben verschwunden. |33| Jetzt ist er ein für alle Mal weg, selbst wenn er es wollte, würde er uns wahrscheinlich nicht mehr ausfindig machen. Vielleicht könnte ich ihm den kleinen Zeh opfern. Und wenn man einen Freund verliert? Wenn man jemanden sterben sieht?
Brian, der rechts neben mir sitzt, bohrt mir den Ellbogen in die Rippen, und auf einmal merke ich, dass es ganz komisch still im Klassenzimmer ist und alle mich anglotzen. Ein paar Mädchen kichern. »Joe Andrews?«, sagt der Lehrer. »Weilst du noch unter uns, Joe?« Mist! Wie oft hat er mich schon aufgerufen?
»Ja, Sir«, antworte ich, wie es in St. Saviours erwartet wird, aber hier ernte ich damit nur schallendes Gelächter. Verdammter Mist.
»Aufwachen, junger Mann«, sagt Mr Brown. »Ist gestern Abend wohl spät geworden, was?« Ich zucke die Achseln und nicke so halb, was er meinetwegen als Zustimmung werten kann.
»Vielleicht möchtest du uns etwas über Prosperos Zauberkunst in
Der Sturm
erzählen, Joe.«
Er will mich vorführen. Fetter Fehler. Die Frage kann ich lässig beantworten, ich zitiere sogar aus dem Stück, so gut bin ich, und dann sitze ich da und versuche, nicht überheblich zu wirken.
Jetzt kichern alle Mädchen. Sogar die kleine Claire wirft mir unter ihren langen Ponyfransen einen Blick zu. Tja, hier kriege ich sogar weibliche Aufmerksamkeit. Schade, dass ich das nicht ausnutzen kann, ohne mir wie ein Kinderschänder vorzukommen.
|34| Dann klingelt es. Mr Brown stapft mit finsterer Miene aus dem Klassenzimmer. Brian haut mir auf die Schulter und ich gehe mit ihm und seinen Kumpels zum Mittagessen in die Mensa.
In St. Saviours hat Ty Lewis niemanden zum Lachen gebracht und sich keiner Gruppe angeschlossen. Er – ich – war einfach nur Arrons Anhängsel. Ich hab mir nie eigene Freunde gesucht, weil ich Angst hatte, dass Arron dann mit anderen Typen abhängen würde.
Ich habe praktisch meine ganze Schulzeit mit Arron verbracht. Wir sind seit dem ersten Tag auf der Grundschule befreundet, weil unsere Mütter sich aus einem Abendkurs kannten. Arron hat sich total auf die Schule gefreut. Er wusste alles darüber, weil sein Bruder Nathan schon drei Jahre hinging. Ich tat so, als ob ich mich auch freue, schon wegen Mum und Gran, aber eigentlich war ich ein bisschen eingeschüchtert, und unsere Lehrerin mochte ich auch nicht, weil sie mich immer Tyrone nannte. Arron zeigte mir, wo man seine Jacke hinhängt und wie das Schloss an der Klotür funktioniert. Er brachte mir bei, wie man auf das Klettergerüst klettert, und erklärte Miss Eagles, dass ich eigentlich Tyler heiße. Wir waren jeden Schultag zusammen. Bis jetzt.
Jetzt halte ich andauernd nach ihm Ausschau. Manchmal sehe ich einen großen dunklen Jungen am Ende eines Korridors und will ihn einholen – bis mir klar wird, dass er es gar nicht sein kann. Dann wird mir immer übel, jedes Mal die gleiche … ich weiß auch nicht – Enttäuschung? Erleichterung?
|35| Als wir in der Schlange stehen – klumpige Lasagne, köstlich, denn zu Hause kann ich froh sein, wenn ich ein gekochtes Ei kriege –, stellen sich ein paar Mädchen zu uns. Es sind die selbstbewusstesten Mädchen in der ganzen Achten; diejenigen, die schon das Schminken entdeckt haben und kurze Röcke und, wenn ich mich nicht irre, Push-up-BHs.
Ashley Jenkins ist die Anführerin. Ich habe sofort das unbestimmte Gefühl, dass sie laut und nervig ist. Ihre Wimpern kringeln sich wie fette Spinnenbeine, ihre Lippen glänzen wie Schneckenschleim. Ich gebe mir Mühe, sie nicht zu beachten. Es klappt nicht.
»Cool, wie du Mr Brown verarscht hast«, sagt sie und streicht sich das Haar glatt.
»Eigentlich habe ich ihn gar nicht verarscht.«
Ashley zuckt die Achseln. »Ist ja auch egal. Ich wollte dich bloß fragen, ob du nach der Schule Zeit hast? Wir könnten ein bisschen im Einkaufszentrum bummeln.«
Nach zweieinhalb Jahren auf einer Jungenschule sind meine praktischen Erfahrungen mit Mädchen ziemlich minimal,
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