Mehr als nur ein Zeuge
nicht so blöd. Das soll ich ja für Mr Henderson rausfinden.« Sie greift nach unten und gleitet irgendwie auf mich zu, und da sehe ich, dass sie im Rollstuhl sitzt. Mir wird vor lauter Verlegenheit heiß und kalt.
»Mach mir mal die Tür auf. Wir treffen uns drüben an der Bahn, wenn du so weit bist«, sagt sie.
Ich stehe einfach da, wahrscheinlich mit offenem |39| Mund. Sie hält mich für schüchtern. »Keine Sorge, Joe. Die anderen trainieren heute in der Halle, es guckt niemand zu.«
»Ich … du … du sitzt im Rollstuhl?« Es kommt wie eine Frage raus. Wie bescheuert kann man sein? Ich werde nie mehr mit ihr sprechen.
Zum Glück lacht sie und sagt: »Gut erkannt, Glückwunsch! Aber lass dich davon nicht abschrecken. Jetzt zieh dich um, ich warte draußen auf dich.«
Sie rollt davon und lässt mich total beschämt zurück.
Ich bin fix und fertig und fest entschlossen, sie zu beeindrucken. Ich gehe rasch zur Tür.
»Beeil dich«, sagt sie noch.
Zwanzig Minuten später habe ich mich – nach ihren Anweisungen – aufgewärmt und gedehnt und trabe um die Bahn. Erstaunlich, wie gut das tut … wie die Konzentration auf das Atmen und die Bewegung alle Sorgen der letzten Wochen verblassen lassen.
Wenn ich laufe, ist es völlig egal, ob ich Joe oder Ty bin. Beim Laufen geht es nicht um Flucht, es geht um Kraft und Ausdauer, es geht darum, die Angst vor dem Unbekannten zu vertreiben, vor den Typen, die mich mundtot machen wollen. Als ich acht war, dachte ich, wenn ich groß bin, werde ich ein Superheld – jetzt fliege ich um den Sportplatz, schnell wie Spiderman, stark wie der unglaubliche Hulk.
Laufen hat mir schon immer Spaß gemacht. Mr Patel fand es toll, dass ich mich freiwillig für die längste Zeitungstour |40| gemeldet habe. Dabei ging es mir nicht nur ums Geld, sondern darum, dass ich, wenn ich die letzte
Daily Mail
ausgeliefert hatte, den ganzen Weg zurück durch den Park rennen konnte. Damals hatte ich keine Angst vor dem Park. Damals fand ich den Park toll.
Ich bleibe blinzelnd und schwitzend neben Ellie stehen. Mir ist ein bisschen schwindelig. Sie reicht mir eine Flasche mit Wasser und ich gluckere sie weg. Warum hab ich bloß kein Handtuch mitgebracht!
»Gar nicht so schlecht«, sagt sie und klingt zufrieden, »eigentlich sogar vielversprechend. Wenn du bereit bist, intensiv zu trainieren, kannst du bestimmt einiges erreichen.«
Wir haben gar nicht mitbekommen, dass sich Mr Henderson zu uns gestellt hat. »Das freut mich, Joe«, sagt er trocken. »Nicht alle Tage verkündet jemand öffentlich, dass er sich unserer Mannschaft angeschlossen hat.«
»Ist mir so rausgerutscht …«, sage ich.
Er winkt ab. »Ich will es gar nicht näher wissen, aber so viel ich gehört habe, hattest du Probleme an deiner letzten Schule.«
Ich will schon widersprechen, halte dann aber doch die Klappe. Ich habe keine Ahnung, was man der Schule über mich erzählt hat. »Ich bin der festen Überzeugung, dass man jederzeit einen Neuanfang machen kann«, fährt Mr Henderson fort, was sehr nett von ihm ist, wenn man bedenkt, dass er mich wahrscheinlich für einen Störenfried, gewalttätig und ein bisschen unterbelichtet hält. »Es gefällt mir, dass du dir für diesen Neuanfang die |41| Leichtathletik ausgesucht hast, und falls Ellie das genauso sieht, mache ich dir einen Vorschlag.«
Ellie nickt und er fährt fort. »Ellie ist hier bei uns eine Art Berühmtheit. Sie ist eine sehr erfolgreiche Sportlerin und trainiert für die Teilnahme an den Paralympics. Sie wird von mehreren ortsansässigen Unternehmen und von der Stadt gefördert, damit sie ordentlich trainieren kann, außerdem strebt sie ein Studium der Sportwissenschaft an. Wir sind sehr stolz auf sie.
Für ihre Facharbeit braucht sie ein Fallbeispiel und sie würde gern mit dir arbeiten. Vielleicht schaffst du es eines Tages ja tatsächlich, in die Leichtathletikmannschaft aufgenommen zu werden. Es ist für euch beide eine Herausforderung, aber wenn du es ernst meinst und tust, was man dir sagt … wer weiß, was du noch alles erreichen kannst. Was hältst du davon?«
Ich denke als Erstes daran, dass dieser Vorschlag Wachtmeister Plattfuß alias Doug gar nicht gefallen würde. »Verhalte dich möglichst unauffällig«, hat er mir eingebläut, und damit hat er bestimmt nicht ein Spezialtraining mit einer blonden querschnittsgelähmten Kleinstadtberühmtheit gemeint. Andererseits: Wie soll ich jetzt noch Nein sagen? Das wäre
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