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Michael.«
»Ich weiß. Ich hab’s beobachtet.«
»Nein. Du ahnst nicht, wie schwer ich es damit mal hatte.«
»Ist doch jetzt egal.« Er legte eine Pause ein und massierte sich mit den Fingerspitzen die Stirn. »Ich hoffe bloß, daß meine Eltern auch damit klarkommen.«
»Du hast es ihnen gesagt?«
»Nein, aber ich glaube, daß ich es tun werde.«
»Mouse … meinst du, sie sind schon soweit?«
»Nein. Sie werden nie soweit sein. Sie können sich nicht mehr ändern und treten nur noch auf der Stelle.«
»Was soll es dann?«
»Ich liebe sie, Mary Ann. Und sie wissen nicht einmal, wer ich bin.«
»Und ob sie das wissen. Sie wissen, daß du ein freundlicher, zuvorkommender und … lustiger Kerl bist. Sie wissen, daß du sie liebst. Warum mußt du dann …?«
»Sie kennen einen Zwölfjährigen.«
»Mouse … es gibt viele Männer, die nie heiraten. Deine Eltern wohnen dreitausend Meilen weit weg. Warum sollten sie nicht weiter glauben, daß du …« Auf der Suche nach einem Wort wirbelte ihre Hand in der Luft einen kleinen Kreis.
»Daß ich ein exzentrischer alter Junggeselle bin«, ergänzte Michael lächelnd. »Als ich noch in Orlando war, hat man sie immer so genannt. Mein Onkel Roger war ein exzentrischer alter Junggeselle. Er hat Englisch unterrichtet und diverse Lilienarten gezüchtet, und außer bei Hochzeiten und Beerdigungen haben wir ihn kaum je zu Gesicht bekommen. Meine Cousins und Cousinen und ich mochten ihn, weil er aus geknoteten Taschentüchern kleine Püppchen machen konnte. Sonst hat er sich aber immer sehr zurückgehalten, weil er wußte, wie die Regel lautete: Verlier ja kein Wort darüber, wenn du willst, daß wir dich mögen. Erinner uns nicht daran, daß du was Widerliches bist.
Und er hat getan, was sie von ihm verlangt haben. Ich weiß nicht … Vielleicht hatte er noch nicht mal was gehört von den Schwulen in New Orleans und San Francisco. Vielleicht hat er gar nicht mal gewußt, was Schwulsein überhaupt ist. Vielleicht hat er gedacht, daß er der einzige ist, der … Aber vielleicht hat er auch bloß gerne in Orlando gelebt. Jedenfalls ist er geblieben, und nachdem er gestorben war – ich war gerade in die High-School gekommen –, hat man ihm ein dezentes Eunuchenbegräbnis verpaßt. Mary Ann … ich habe nie gesehen, daß er einen anderen Menschen auch nur angefaßt hätte. Nie.«
Michael schüttelte zögernd den Kopf. »Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, daß er mal gebumst hat.«
Mary Ann griff nach vorne und legte ihm die Hand auf den Arm. »Heute ist es anders, Mouse. Die Welt ist ein gutes Stück erwachsener geworden.«
»Findest du?« Er drückte ihr den Chronicle in die Hand und deutete auf Charles McCabes Kolumne. »Dieser aufgeklärte Liberale schreibt, daß die Homosexuellen einen heftigen Rückschlag erleiden werden, weil die ordentlichen Leute alles ›Abnormale‹ leid sind und nichts mehr damit zu tun haben wollen.«
»Vielleicht will er …«
»Ich habe aber auch eine Neuigkeit für ihn. Rate mal, wer es sonst noch leid ist. Rate mal, wer sich sonst noch abgestrampelt hat wie verrückt, um ja nicht abnormal zu sein. Wer sich mit Witzchen und Entschuldigungen und Trutschigkeiten durch einen Haufen Scheiße geackert hat. Abnormal? Kein Schwein würde heute wissen, wer Anita Bryant ist, wenn sie nicht in einen Badeanzug gestiegen wäre und damals bei dieser Viehversteigerung in Atlantic City alles zur Schau gestellt hätte, was sie so zu bieten hat. Wenn du mir den Unterschied zu einem Tanzwettbewerb in Jockey-Shorts erklären kannst, dann tu das bitte!«
Er war laut geworden. Mary Ann sah sich nervös nach den anderen Passagieren um, bevor sie in beruhigendem Ton sagte: »Mouse, mich mußt du nicht mehr überzeugen.«
Er lächelte und küßte sie auf die Wange. »Entschuldige. Ich höre mich an wie eine von Carry Nations Suffragetten, was?«
Den Rest des Flugs schliefen sie. Als Michael beim Anflug auf San Francisco wach wurde, spürte er sofort wieder die beruhigende Hand der Stadt auf seiner Schulter.
»Na«, spöttelte Mary Ann, als das Trio aus dem Flugzeug stieg, »außer den Hare Krishnas in der Halle hätten wir schon alles überstanden.«
Michael zwinkerte Burke zu. »Keine Bange. Wenn sie uns eine Rose verkaufen wollen, setzen wir unsere Geheimwaffe ein.«
Der Pilot kam aus dem Cockpit. Als Michael ausstieg, wechselten die beiden Männer diesen bestimmten, uralten, niemals festgelegten, aber völlig unmißverständlichen
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