Mehr Stadtgeschichten
sich von ihm, ging durch das Zimmer an das andere Fenster, blieb davor stehen und wischte sich die Tränen ab.
»Mona …«
»Ist schon wieder gut.« Sie sah sich nach einer Uhr um. »Es ist sehr spät. Ich sollte besser gehen.«
Er stellte sich neben sie und riskierte alles: »Du kannst hierbleiben … wenn du möchtest.«
»Nein. Aber vielleicht beim nächstenmal.« Sie umarmte ihn etwas verlegen und legte den Kopf an seine Brust. »Ich mag dich, Brian. Du bist ein heimlicher Tom Hayden.«
Er küßte sie auf die Stirn. »Und wer ist meine Jane Fonda?« fragte er.
Sie standen engumschlungen am Fenster und erstarrten vor diesem Hintergrund endgültig zu einem Klischeebild, wie es Rod McKuen nicht besser hinbekommen hätte.
Lady Eleven beobachtete die beiden nicht einmal eine Minute lang. Dann setzte sie ihr Fernglas ab und zog die Vorhänge zu.
Ein Gedicht zum Grübeln
Vielleicht lag es an den Palmen, an dem merkwürdig tropi schen Abend oder an dem dunkelhäutigen Mann vom Nebentisch mit seinem Campari, aber die Terrasse des Savoy-Tivoli hatte etwas, das in Mary Ann eine prickelnde Erinnerung an Mexiko wachrief.
Burke erging es nicht anders. »Erinnert dich das an Las Hadas?«
»Glaub mir, ich hab es nicht darauf angelegt.« Sie hatte ihn ganz aufgeregt vom Krankenhaus angerufen und ihm das Lokal als Treffpunkt genannt. Ihre Entdeckung hatte sie am Telefon nicht preisgeben wollen.
»Und, was ist?« fragte Burke, sobald ihr Kaffee und ihre Desserts gekommen waren.
Mary Ann lächelte geheimnisvoll und versenkte ihren Löffel in der Crème Caramel. »Ich habe unseren Freund gefunden«, erwiderte sie schließlich.
»Wen?«
»Den Mann vom Blumenmarkt. Den mit den Haarimplantaten.«
»Mensch. Wo?«
»Im Krankenhaus. Er führt dort den Blumenladen. Ich bin heute nachmittag reingegangen, weil ich für Michael eine Azalee oder so was holen wollte, und da stand er hinter …«
»Hast du mit ihm gesprochen? Hast du ihn wegen mir gefragt? Hat er dich erkannt?«
Sein drängender Ton überraschte sie. »Ich habe ihn nicht gefragt, Burke. Ich hatte Angst davor.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, daß er mich erkannt hat. Er hat sich zwar nicht so verhalten, aber ich bin einfach das Gefühl nicht losgeworden, daß ihm klar war, wer ich bin.«
»Na und? Schau, Mary Ann, mir macht es nichts aus, ihn anzusprechen, wenn du dich davor genierst. Alles ist mir lieber als diese ewige Beklommenheit und Spekuliererei. Der Mann könnte der Schlüssel zu allem sein.«
»Das weiß ich, Burke. Ich bin sogar davon überzeugt. Nur glaube ich nicht, daß wir das Risiko …« Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Es kann sein, daß ein schreckliches Erlebnis deine Amnesie ausgelöst hat, Burke. Und dieser Mann hatte vielleicht damit zu tun.«
»Du siehst zu viele Filme. Vielleicht habe ich für ihn gearbeitet oder so.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Jon gebeten, die Unterlagen des Krankenhauses durchzugehen. Du hast im St. Sebastian’s nie auf der Gehaltsliste gestanden, und du warst dort auch nie Patient. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß du es vor unseren Besuchen bei Michael schon mal betreten hast.«
Er lächelte sie liebevoll an. »Du spielst mal wieder die kleine Schnüfflerin, was?«
»Ich möchte dir helfen«, sagte sie leise.
»Schön.« Er faßte in die Brusttasche seines Cordjacketts, zog eine Karteikarte heraus und legte sie vor Mary Ann hin. »Dann sag mir, was das zu bedeuten hat.«
Sie griff nach der Karte. Burke hatte einen Vierzeiler darauf geschrieben:
Hoch auf dem geheiligten Stein
Leuchtet die inkarnierte Rose
Über dem Berg der Flut
Am Kreuzungspunkt der Linien.
»Was ist das?« wollte sie wissen.
»Das hab ich geträumt. Ist doch hübsch, hm?« Sein Ton war viel zu schnoddrig – ein Abwehrmechanismus, den Mary Ann inzwischen als solchen erkannte. Er hatte mehr Angst als je zuvor.
»Hast du es in deinem Traum gehört, Burke?«
»Ja. Oben auf diesem verfluchten Steg mit dem Geländer. Der Rest des Traums war wie sonst auch. Es war dunkel, der Mann mit den Implantaten war da, rings um mich standen in der Finsternis noch andere Leute, und der Implantatemann sagte: ›Nur zu … es ist rein organisch.‹«
»Und wie hast du es gehört? Das Gedicht, meine ich.«
»Sie haben es gesungen. Immer und immer wieder.«
»Wie viele Leute?«
»Kann ich nicht sagen. Sie haben beim Singen fast geflüstert … Als wäre jemand in der Nähe gewesen, der es sonst gehört
Weitere Kostenlose Bücher