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gekommen?«
»Ja.«
Die Schwester deutete mit dem Kopf auf ihren Patienten. »Er ist ein netter Junge.«
Jon nickte.
»Sie und er sind … gute Freunde, nicht?«
»Mhm.«
»Er redet viel von Ihnen.«
»Ich weiß.«
»Wir haben uns heute lange unterhalten. Wir kommen beide aus Florida, wissen Sie. Ich bin aus Clearwater. Das heißt, meine Familie hat dort gewohnt, wie ich noch ein Teenager war, und ich hab dort meinen Mann kennengelernt und so, aber wir sind dann umgezogen nach Fort Bragg, North Carolina, als er zur Army gegangen ist.«
»Aha.«
»Wissen Sie, ich geb es ganz offen zu: Wir zwei sind so richtig konservativ, Dr. Fielding. Wir haben ’64 für Goldwater gestimmt, und Earl sagt immer, daß der Sozialismus dieses Land kaputtmachen wird, und ich würde sagen, da bin ich mit ihm einer Meinung. Für meine Begriffe ist das nicht reaktionär. Ganz egal, was die Leute so sagen. Ich bin im Glauben an die Verfassung, an die Bibel und an die freie Marktwirtschaft erzogen worden, und ich denke, daß ich dem immer treu bleiben werde.«
Die Krankenschwester ging auf Michaels Bett zu. Jon war nicht ganz wohl in seiner Haut. Worauf wollte sie hinaus?
»Ich denke manchmal«, fuhr sie fort, »daß alles einfach zu schnell geht. Die Welt wird immer verrückter, und die Menschen haben nicht mehr die … sie wissen einfach nicht mehr, was Anstand ist. Auf nichts kann man sich mehr so verlassen wie früher. Familien und Ehen gehen kaputt, und die Sozis zerstören einfach alles, was den Leuten mal wichtig war.«
Sie stand inzwischen am Kopfende des Betts. Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf Michael. Als sie den Kopf wieder hob, hatte sie Tränen in den Augen.
»Ich weiß, daß das stimmt. Ich weiß es, Dr. Fielding. Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die ich ändern würde, aber … ich …« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute wieder Michael an. »Ich wäre stolz … Ich wäre richtig stolz, wenn dieser Junge hier der Lehrer von meinen Kindern wäre. Ich schwör’s bei Gott!«
Jon verbarg seine Gefühle hinter einem Lächeln. »Danke«, sagte er leise.
Die Krankenschwester wandte sich ab und schneuzte sich. Als sie sich danach an Michaels Bettdecke zu schaffen machte, wich sie Jons Blick aus. Sie sah ihn erst wieder an, als sie fast schon an der Tür war.
»Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht … übel?«
»Nein. Natürlich nicht. Sie haben etwas sehr Schönes gesagt.«
»Sind Sie nicht schrecklich müde?«
»Ein bißchen.«
»Warum gehen Sie nicht nach Hause. Ich paß schon auf ihn auf.«
»Ich weiß. Ich werde auch bald gehen.«
»Herr Doktor?«
»Ja?«
»Wenn das alles vorbei ist … wenn es ihm wieder bessergeht … würde ich mich freuen, wenn Sie … ich meine, wenn Sie beide … mal zu uns zum Essen kommen würden. Rote Bohnen mit Reis mache ich richtig gut.« Sie lächelte und deutete mit dem Kopf auf Michael. »Er hat gesagt, daß er das gerne ißt.«
»Danke. Wir kommen sehr gern.«
»Earl ist wirklich ein netter Kerl. Er wird Ihnen gefallen.«
»Klar. Danke.«
»Gute Nacht, Doktor.«
»Gute Nacht. Und alles Gute.«
Jon blieb noch eine Stunde sitzen, bevor er schließlich im Sessel einschlief. Eine drängende Stimme weckte ihn.
»Pssst, Blödian.«
»Wa …? Michael?«
»Nein. Marie Antoinette.«
»Was ist los?«
»Komm mal her.«
Jon trat ans Bett. »Ja?«
»Schau mal.«
»Was denn?«
»Da unten, du Doofsack. Meine Hand.«
Jon sah, wie sich Michaels Zeigefinger ein ganz klein wenig bewegte.
»Steh nicht einfach so rum«, sagte Michael grinsend.
»Klatsch gefälligst, wenn du an Märchen glaubst!«
Der Laden im St. Sebastian’s
Ein plötzlicher Hauch von Frühling traf Mrs. Madrigal, die den Vorgarten der Barbary Lane 28 fegte, völlig unvorbereitet. Es war wieder Frühling in der Barbary Lane! Wuchernde Gelbe Narzissen, die ihre Zeit zwischen den Mülltonnen ver bummelten, der Geruch nach Katzenfell, nach Flieder und der sonnenwarmen Rinde der Eukalyptusbäume … Und der liebe, gute Brian, der sich auf den Ziegelsteinen sonnte.
Zum erstenmal seit Wochen schien ihre Familie wieder intakt zu sein. Michael ging es laut Jon sehr viel besser, und er sollte in wenigen Tagen nach Hause zurückkehren. Mary Ann und Burke hatten sich in ihren Wohnungen gemütlich eingerichtet, obwohl es den Anschein hatte, daß eine auch genügt hätte.
Brian wohnte natürlich immer noch in dem Häuschen auf dem Dach.
Und Mona – ihre innig geliebte Tochter –
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