Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
von einer dicken Staubschicht bedeckt. Ich glaube, Mrs. Grund war schon ein paar Jahre tot. Mr. Grund dagegen war sehr lebendig und entzückt, wenn das Klingeln der Glocke über seiner Tür das Eintreten neuer Kunden verkündete, selbst wenn es immer nur Kinder waren, und selbst wenn sie nur aus einem einzigen ruchlosen Grund kamen: etwas von seinem riesigen Vorrat an alten Penny-Bonbons zu stehlen.
Es ist womöglich die beschämendste Geschichte aus meiner Kindheit, aber über 12 000 Kinder von damals hängen mit mir drin. Alle wussten, man konnte bei den Grunds etwas mitgehen lassen und wurde nie erwischt. Samstags kamen Kinder aus dem ganzen Mittleren Westen, manche in Charterbussen, wenn ich mich recht erinnere, um sich fürs Wochenende einzudecken. Mr. Grund war heiter blind gegenüber solcherlei Frevel. Man konnte ihm die Brille abnehmen, die Fliege aufbinden, ihn behutsam von seinen Hosen befreien, und er schöpfte immer noch keinen Verdacht. Manchmal kauften wir sogar eine Kleinigkeit, aber nur, damit er sich umdrehte und seine alte Registrierkasse in Bewegung versetzte und hundert Hände herausschießen, in seine übergroßen Gläser tauchen und sich noch einmal bedienen konnten. Ein paar größere Kinder nahmen einfach die Gläser. Trotzdem muss man sagen, verschönten wir ihm die Tage, bis er schließlich das Geschäft aufgeben musste.
Wenigstens waren Bonbons ein echtes Vergnügen. Die meisten Dinge, von denen es hieß, sie machten Spaß, waren nämlich in Wirklichkeit überhaupt nicht lustig. Zum Beispiel Modellbauen. Modellbauen, das ja angeblich riesigen Spaß machte, war in Wirklichkeit nur ein unerklärliches Martyrium, das man als Junge von Zeit zu Zeit durchmachen musste. Klar, die Modellbausätze sahen immer aus , als hätte man seinen Spaß damit. Die Illustrationen auf den Schachteln zeigten Kampfflugzeuge in wunderbaren Einzelheiten; sie spuckten rote und gelbe Flammen aus ihren Bordgeschützen und waren in lebhafte Luftkämpfe verwickelt. Im Hintergrund trudelte eine getroffene Messerschmitt zur Erde, in deren Cockpit ein betrübter Deutscher saß und bittere Flüche durch die Windschutzscheibe ausstieß. Man konnte es gar nicht abwarten, solche dynamischen Szenen dreidimensional zu erschaffen.
Doch wenn man mit dem Bastelsatz nach Hause kam und die Schachtel öffnete, war der Inhalt immer gleichförmig bleigrau oder olivgrün und bestand aus etwa 60 000 Teilen, von denen einige nicht größer als ein Proton, alle aber in irgendeiner organischen, untrennbaren Weise an Plastikstielen befestigt waren, die wie Sektquirle aussahen. Die Klebstofftuben waren im Gegensatz dazu so groß wie riesige Teigspritzen. Einerlei wie behutsam man daraufdrückte, sie sprotzten einen guten halben Liter einer klaren zähen Schmiere aus, die sich instinktiv an alles heftete, was nicht zu dem Modell gehörte – menschliche Finger, die Wohnzimmergardinen, das Fell eines vorbeilaufenden Tieres –, und dann zog sich das Ganze auch noch zu einem unendlich langen Faden.
Jeder Versuch, den Faden zu zerreißen, endete damit, dass man noch mehr Fäden erschuf und binnen Sekunden an Hunderten hängender Fäden klebte, die alle mit etwas verbunden waren, das nichts mit Modellflugzeugen oder dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Das Einzige, an dem der Kleber nicht haften blieb, waren interessanterweise die Plastikmodellteile. Dann verwandelte er sich nämlich in ein glibbriges Gleitmittel, mittels dessen zwei Teile endlos lange aufeinander herumglitschten, und das nie trocknete. Letzten Endes lief es darauf hinaus, dass nach etwa 40 Minuten intensiver, aber chaotischer Bemühungen man selbst und die unmittelbare Umgebung in ein Spinnennetz aus glänzenden Klebefäden gehüllt waren, in dessen Mitte sich ein grauer Flugzeugrumpf mit einem verkehrt herum zusammengeklebten Flügel und einem Piloten befand, der versehentlich, doch unwiderruflich, mit der Fliegerkappe an der Cockpitdecke klebte. Zu diesem Zeitpunkt war man aber glücklicherweise von dem Klebstoff so high, dass einem Pilot, Modell und alles andere vollkommen egal waren.
Das eigentlich Interessante an diesen Freizeitenttäuschungen in den Fünfzigern war indes, dass man nie damit rechnete. Weil die Anzeigen so toll waren! So gewieft wie damals waren die Werbeleute nie wieder. Sie konnten jedes mistige kleine trügerische Stück fantastisch klingen lassen. Nie vorher oder nachher klang Werbegesülz so seidenweich, verhieß einem so geschickt orgiastische
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