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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Hang hinaufziehen konnte. Wenn man losließ, traf es den anderen wie eine Kanonenkugel. In weitgehend gleicher Weise gewannen Hula-Hoop-Reifen einen gewissen Unterhaltungswert, wenn man sie als überdimensionale Wurfringe benutzte, um vorbeikommende Krabbelkinder einzufangen und zu Fall zu bringen.
    Vielleicht sagt nichts mehr über das bescheidene Spektrum der Vergnügungen von damals aus, als dass die beliebtesten Bonbons in meiner Kindheit aus Wachs waren. Man konnte wählen zwischen Wachszähnen, Wachslimonadenflaschen, Wachsfässchen und Wachsschädeln, alle mit einer kleinen Menge einer bunten Flüssigkeit gefüllt, die wie Hustensaft schmeckte. Die schluckte man interessiert, wenn auch unbefriedigt und kaute die nächsten zehn, elf Stunden auf dem verbliebenen Wachs herum. Sie denken jetzt vielleicht, dass man eine falsche Vorstellung von Lust hat, wenn man bares Geld für farbloses Wachs hinblättert, und Sie haben natürlich völlig Recht. Doch wir haben es getan und es genossen, weil wir nichts Besseres kannten. Und irgendwie hatte es auch etwas Gutes, etwas gesund Asketisches, etwas zu essen, das weder Geschmack noch Nährwert besaß.
    Man bekam auch kleine unechte Eishörnchen aus einem krümeligen, kreideähnlichen Material, Strohhalme mit grobkörnigem Zucker, der so wahnsinnig sauer war, dass einem das ganze Gesicht in den Mund gesaugt wurde wie Sand, der in einem Loch verrieselt, Kräuterlimonadefässchen, scharfe Zimtdragees, Lakritzschnecken und -schlangen, schmierige Gummiwürmer, gummiartige sowie zähe Bonbons aus gelatineähnlichem Material, die nach unbekannten (und ungenießbaren) Früchten schmeckten, aber ihr Geld wert waren, weil es über drei Stunden dauerte, eins zu lutschen (und weitere drei, die klebrigen Überreste, manchmal mit anhängenden Füllungen, aus den Backenzähnen zu pulen). Und schließlich gab es noch Kieferbrecher von der Größe und Kompaktheit einer Billardkugel, die ihr Geld am allermeisten wert waren, denn an ihnen lutschte man bis zu drei Monaten, und sie hatten verschiedenfarbige Schichten, die der Zunge interessante neue Farbtönungen verliehen, wenn man beharrlich eine schuppige Schicht nach der anderen ablöste.
    Bei Bishop’s, wo es an der Kasse eine große und allseits geschätzte Auswahl an Penny-Bonbons gab, konnte man auch relativ köstliche Lakritzen bekommen, die mit nicht zu überbietender Sensibilität Nigger Babies genannt wurden, obgleich außer meiner Großmutter niemand mehr diesen Namen benutzte. Wenn sie aus ihrer Heimatstadt Winfield zu Besuch kam und wir manchmal bei Bishop’s essen gingen, steckte sie mir einen Vierteldollar zu und sagte, ich solle ein paar Bonbons holen, die wir beide später lutschen könnten.
    »Und vergiss nicht, ein paar NIGGER BABIES mitzubringen!« , schrie sie dann zu meinem peinlichen Verdruss durch das ein Quadratkilometer große, vollbesetzte Speiserestaurant, und 100 Gäste schauten auf.
    Wenn ich fünf Minuten später, in dem vergeblichen Versuch, der Entdeckung zu entgehen, verstohlen an die Außenwände gedrückt, mit dem Kauf zurückkam, schrie sie, kaum dass sie mich erspähte: »Ah, da bist du ja, Billy. Hast du daran gedacht, ein paar NIGGER BABIES mitzubringen? Ich ess sie nun mal zu gern, die … NIGGER BABIES !«
    »Grandma«, flüsterte ich dann wütend, »das darfst du nicht sagen.«
    »Was nicht sagen – NIGGER BABIES ?«
    »Ja. Sie heißen Lakritz babys.«
    »Nigger Baby klingt beleidigend«, erklärte ihr meine Mutter.
    »Oh, tut mir leid«, sagte meine Großmutter und wunderte sich, wie etepetete die Stadtmenschen waren. Bei unserem nächsten Besuch bei Bishop’s hieß es dann: »Billy, hier ist ein Quarter. Geh und hol uns ein paar – wie nennt ihr die? – LAKRITZNIGGERS !«

    Penny-Bonbons bekam man auch bei Grund’s, einem kleinen Lebensmittelladen auf der Ingersoll Avenue. Grund’s war in der Stadt eines der letzten Geschäfte in Familienbesitz, auf jeden Fall das letzte in unserem Viertel. Betrieben wurde es von einem bezaubernd winzigen und unermesslich steinalten, tattrigen Paar namens Mr. und Mrs. Grund. Seit 1929 war aus dem Lagerbestand nichts ersetzt, oder recht bedacht, verkauft worden. Es gab dort Dinge, die man seit der Stummfilmzeit in der großen, weiten Welt des Einzelhandels nicht mehr gesichtet hatte – Othine-Bleichcreme, Fels Naptha-Seife, Kisten mit Wild-Root-Haarwasser mit einem Foto von Joe E. Brown aus den 1920ern vorne drauf. Alles, einschließlich Mrs. Grund, war

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