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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Spielfeld mit Haupttribüne und Getränkestand, Pressekabine und echten, tiefer gesetzten Spielerbänken. (Und was machte es schon, dass sich jedes Mal, wenn es regnete, große Pfützen bildeten und die kleineren Spieler nicht über den Rand schauen konnten und deshalb häufig zum falschen Zeitpunkt jubelten?) Wenn man die drei abgetretenen Stufen hoch aufs Spielfeld rannte, konnte man sich wirklich vorstellen, man sei im Yankee Stadium. Je besser die Ausstattung, desto reicher die Fantasien, glauben Sie mir. Greenwood hatte alles im Übermaß.
    Zum Beispiel eine Aula, die wie ein richtiges Theater war, mit Bühne und Vorhängen und Scheinwerfern und dahinter den Künstlergarderoben. Die Schulaufführungen konnten also noch so schlecht sein – und unsere waren grottenschlecht, teils, weil wir kein Talent hatten, und teils, weil Mrs. De Voto, unsere schon betagte Musikerlehrerin, gern am Klavier einschlummerte –, man hatte trotzdem stets das Gefühl, an einem wohlgeordneten professionellen Unternehmen beteiligt zu sein. (Selbst wenn man dastand und endlos lange einen Ton hielt, weil man darauf wartete, dass Mrs. De Votos Kinn auf der Tastatur aufschlug, wonach sie stets wieder putzmunter wurde und mit mitreißender Begeisterung genau an der Stelle weitermachte, an der sie ein, zwei Minuten zuvor aufgehört hatte.)
    Greenwood hatte auch die schönste Turnhalle der Welt. Sie war oben an der Rückseite der Schule, was ihr etwas hübsch Unerwartetes verlieh. Man öffnete die Tür, erwartete ein normales Klassenzimmer dahinter zu finden und stand stattdessen – he! Donnerwetter! – in einem gigantischen kubischen Gewölbe aus blankpoliertem Holz. Eine wahre Augenweide: Der Raum hatte Fenster wie eine Kathedrale, eine Decke, die ein Ball niemals erreichte, Quadratmeilen lackierten Holzbodens, der von quietschenden Turnschuhen und zarten Tröpflein kindlichen Schweißes in Jahrzehnten einen weichen honigfarbenen Schimmer bekommen hatte, und eine so klasse hallende Akustik, dass es jedes Mal klang, als seien die einherspringenden Bälle echt sportlich und geschickt geschlagen worden. Wenn das Wetter gut war und wir aus der Turnhalle zum Spielen nach draußen geschickt wurden, führte uns der Weg zum Platz zuerst auf eine beängstigende, doch zugleich in erhabenen Höhen befindliche, klapprige Feuerleiter. Der Blick von dort hoch oben reichte über Meilen von Dächern und sonnenbeschienener Landschaft praktisch bis Missouri – so kam es einem jedenfalls vor.
    Doch weil draußen fast immer Winter war, spielten wir meist in der Halle. Damals waren Winter natürlich wie alle Kindheitswinter viel länger, schneereicher und kälter als heute. Wir hatten stets bis zu dreieinhalb Meter Schnee auf einen Schlag – ja, selten weniger – und wochenlanges arktisches Wetter, so bitterkalt, dass man Eiszapfen pullern konnte.
    Und da das Schulgebäude immer bis zur Temperatur eines Töpferbrennofens aufgeheizt wurde, befanden sich sowohl Schüler als auch Lehrer in einem Zustand permanenter, wehrloser Schläfrigkeit. Gleichzeitig machte die stickige Wärme alles köstlich heiter und gemütlich. Selbst Lumpy Kowalkskis Hose roch nicht ganz so schlimm. Andererseits waren die Heizkörper so heiß, dass man sich die Haut verschmorte, wenn man sich leichtsinnigerweise mit dem Ellenbogen darauf stützte. Eine berüchtigte Tradition war es, auf die Heizkörper in den Jungstoiletten zu pieseln. Da entstand ein überaus scharfer durchdringender Gestank, der tagelang ganze Gebäudeflügel durchzog und den man auch durch noch so viel Schrubben oder Lüften nicht loswurde. Jeder, der beim Pinkeln auf die Heizung erwischt wurde, wurde standrechtlich erschossen.
    Die Schultage selbst verbrachte man großteils damit, Kleidung abzulegen oder anzuziehen. Ein zähes, anstrengendes Prozedere. Fast den ganzen Morgen dauerte es, die Kleidung für draußen auszuziehen, und fast den ganzen Nachmittag, sie wieder anzuziehen, immer unter der Voraussetzung, dass man irgendwas davon in dem kunterbunt durcheinanderliegenden, rutschigen Kleiderhaufen wiederfand, der den Boden der Garderoben bis zu einem Meter hoch bedeckte. Wenn wir uns umkleideten, entstanden Szenen wie im Flüchtlingslager und stets irrten mindestens drei Kinder umher und weinten bittere Tränen, weil sie nur einen Schuh oder gar keine Handschuhe mehr hatten. Lehrer sah man in solchen Momenten nie.
    Schuhe hatten damals eigentümliche, unkooperative Verschlüsse, die wahrhaftig gleichzeitig

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