Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
berauschend. Zwei tiefe Züge von einem frisch aus dem Abzugsapparat kommenden Arbeitsblatt und ich war bis zu sieben Stunden lang williger Sklave des Erziehungssystems. Gehen Sie zu einem x-beliebigen Drogentreffpunkt und fragen Sie die Leute dort, wo ihre Suchtprobleme begannen, und sie erzählen Ihnen unter Garantie: mit den Matritzenabzügen in der zweiten Klasse. Montagmorgens sprang ich aus dem Bett, weil das der Tag war, an dem frische, von Matritzen abgezogene Arbeitsblätter ausgeteilt wurden. Ich drapierte sie mir übers Gesicht und entschwebte an einen geheimen Ort, wo die Felder grün waren, alle barfuß liefen und leise Klänge von Panflöten durch die Luft schwebten. Doch die restliche Woche trudelte ich entweder am frühen Vormittag ein oder kam überhaupt nicht. Ich fürchte, die Lehrer nahmen es persönlich.
Sie hätten mich sowieso nie gemocht. Etwas an mir – dass ich so verträumt und rettungslos vergesslich und überhaupt nicht niedlich war und außerdem ständig eine Miene gequälten Zweifelns mit mir herumtrug – ging ihnen gegen den Strich. Sie hassten natürlich alle Kinder, besonders kleine Jungen, doch von den Kindern, die sie nicht mochten, war ich, glaube ich, ihr ganz besonderer Favorit. Ich machte immer alles falsch. Ich vergaß, amtliche Formulare unterschrieben und pünktlich zurückzubringen. Ich vergaß, Kekse zu Klassenfesten oder Weihnachts- und Valentinskarten zu den dazugehörigen Festivitäten mitzubringen. Ich kam immer mit leeren Händen zum »Show and tell«-Unterricht, wenn wir einen Gegenstand mitbringen und erklären mussten. Ich weiß noch, dass ich in der Vorschule in meiner Verzweiflung mal meine Finger gezeigt und erklärt habe.
Wenn wir einen Ausflug machten, hatte ich unweigerlich nie die schriftliche Einwilligung von zu Hause dabei, obwohl man mich wochenlang täglich daran erinnert hatte. Am Tag des Ausflugs mussten also alle missvergnügt stundenlang im Bus sitzen, während die Schulsekretärin versuchte, meine Mutter zu erwischen und ihre Einwilligung telefonisch einzuholen. Meine Mutter war aber immer Kaffeetrinken. Die ganze verdammte Frauenredaktion war immer Kaffeetrinken. Und wenn sie nicht Kaffee trank, war sie beim Mittagessen. Ehrlich gesagt, ist es ein Wunder, dass ihre Seiten jemals fertig wurden. Schlussendlich schenkte mir die Sekretärin ein trauriges Lächeln, und wir mussten uns beide der Tatsache stellen, dass ich nicht mitfahren konnte.
Der Bus fuhr also ohne mich ab, und ich verbrachte den Tag in der Schulbücherei, was mich aber keineswegs störte. Schließlich verpasste ich ja keinen Trip zum Grand Canyon oder nach Cape Canaveral. Wir waren in Des Moines. Ausflüge in Des Moines hatten nur zwei Ziele: Entweder die Wonder-Bread-Fabrik an der Ecke Second Avenue/University Avenue, wo man beobachten konnte, wie frisch gebackene Teigwaren auf Fließbändern unter sehr lässiger Überwachung durch lustlose Nichtstuer mit Papierhüten durch einen riesigen Raum fuhren (und man durchaus auf den Gedanken kommen konnte, Zweck der Schulausflüge sei, den Nichtstuern was zum Anstarren zu bieten). Oder man fuhr zum Museum der Iowa State Historical Society, das stillste und unaufregendste Gebäude der Welt, wo man entdeckte, dass in Iowa eigentlich nie viel passiert war – gar nichts, wenn man die Eiszeit außer Acht ließ.
Mit schlimmer Regelmäßigkeit wurde ich gedemütigt, wenn ich vergaß, Geld für Sparmarken mitzubringen. Sparmarken waren wie Sparschuldverschreibungen, allerdings mit kleinen Beträgen. Man gab der Lehrerin 20 oder 30 Cents (zwei Dollar, wenn der Vater Anwalt, Chirurg oder Kieferorthopäde war), und sie gab einem eine entsprechende Anzahl patriotisch aussehender Marken – für zehn Cent eine –, die man anleckte und in ein Sparmarkenbuch auf sparmarkengroße Quadrate klebte. Wenn man ein Buch vollgeklebt hatte, hatte man zehn Dollar gespart und die Vereinigten Staaten waren um einiges besser gerüstet, den Kommunismus zu schlagen. Ich sehe die Marken noch vor mir: Sie waren rosarot mit dem Bild eines Freiwilligen aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, mit Dreispitz, Muskete und entschlossener Miene. Es war heilige patriotische Pflicht, solche Marken zu kaufen.
Einmal wöchentlich – ich könnte Ihnen heute nicht sagen, an welchem Tag, und hätte es Ihnen natürlich auch damals nicht sagen können – verkündete Miss Miesepetrig oder Miss Lesbos oder Miss Kompakte Kleine Fettwalze, heute werde wieder das Geld für
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