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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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kniffen und blutige Wunden rissen und besonders, wenn die Hände taub vor Kälte waren, manch interessante Verletzung verursachten. Die Hersteller hätten auch gleich Rasierklingen verwenden können. Weil die Verschlüsse so gefährlich waren, ließ man sie schließlich offen, was männlicher war, aber auch gewaltige Schneemassen hereinließ, so dass man einen Großteil des Tages in triefnassen Socken verbrachte, die dreimal länger als die Füße wurden. Und da die Kleidung ständig feucht war und sich die Wärme in den Kinderkörpern staute, lief uns von Oktober bis April die Nase, was die meisten aber als flüssigen Nahrungsspender betrachteten.
    Greenwood hatte keine Cafeteria, zum Mittagessen mussten wir nach Hause gehen, was bedeutete, dass wir uns an jedem Schultag viermal an- beziehungsweise auszogen – und wenn der Lehrer so dumm war, irgendwann eine Pause an der frischen Luft anzuordnen, sechsmal. Mein guter, geistig minderbemittelter Freund Buddy Doberman brauchte sein Leben lang immer so viel Zeit beim Umziehen, dass er oft die Übersicht verlor und mich fragen musste, ob wir jetzt die Mützen an- oder aufsetzten. Doch für jedwede Hilfe war er stets sehr dankbar.
    Von den vielen tausend Dingen, die Mütter nie verstehen – wie männlich Grasflecken sind, wie befriedigend ein richtig guter Rülpser oder ein Ausstoß sonstiger gasiger Substanzen ist und wie nötig man es von Zeit zu Zeit findet, durch Strohhalme nicht zu saugen, sondern zu blasen –, ist Winterkleidung tragischerweise vielleicht das Augenfälligste. In den Fünfzigern lebten alle Mütter in der Furcht vor Kaltfronten, die sich aus Kanada hereinmogelten, und sie bestanden darauf, dass ihre Kinder mindestens sieben Monate im Jahr enorme Mengen an wärmespendender Kleidung trugen. Im Allgemeinen in Form von Unterwäsche – Baumwollunterwäsche, Flanellunterwäsche, lange Unterwäsche, Rheumaunterwäsche, gesteppte Unterwäsche, Feinrippunterwäsche, Unterwäsche mit Schulterpolstern und womöglich noch mehr; an Unterwäsche mangelte es in den Vereinigten Staaten in den 1950er Jahren nicht – denn auch, wenn man nur zehn Minuten am Tag an der frischen Luft war, hätte man ja erfrieren können.
    Dabei berücksichtigten die Mütter leider nicht, dass man von der zusätzlichen Kleidung derart mumifiziert war, dass man Arme und Beine überhaupt nicht mehr beugen konnte, und wenn man hinfiel, nie wieder auf die Beine kam, falls einem nicht jemand half, worauf aber nicht immer Verlass war. Die vielen Schichten Unterwäsche machten auch Toilettengänge zu einer nervenaufreibenden Herausforderung. Die Hersteller versahen zwar jedes Teil mit winkelförmigen Schlitzen, aber die lagen nie richtig übereinander, und wenn der Penis nur die Größe einer knospenden Eichel hat, ist es ohnehin viel verlangt, ihn durch sieben, acht Lagen Unterwäsche zu fädeln und trotzdem noch richtig im Griff zu behalten. Bei jedem Besuch der Toilette hörte man zumindest einen panikartigen Schrei von jemandem, der mittendrin den Zugriff verloren hatte und nun hektisch nach dem verschütt gegangenen Anhängsel kramte.
    Die Mütter begriffen auch nicht, dass man in bestimmter Kleidung in bestimmten Lebensphasen verprügelt wurde. Zum Beispiel, wenn man mit über sechs Jahren noch Schneehosen trug. Auch wenn man eine Mütze mit Ohrenklappen oder schlimmer noch, mit einem Band unter dem Kinn aufhatte, konnte man mit einer Tracht Prügel beziehungsweise auf jeden Fall mit ein paar Händen voll Schnee im Nacken rechnen. Das Schlappschwänzigste, Allerdümmste aber war, Gummiüberschuhe zu tragen. Galoschen waren stil- und nutzlos allemal, und sogar der Name klang dämlich und unentrinnbar demütigend. Wenn einen die Mutter zwang, zu irgendeinem Zeitpunkt des Jahres Galoschen zu tragen, war das das Todesurteil. Ich kannte Jungs, die zum Jahresabschlussball der Highschool kein Mädchen kriegten, weil sich jedes Mädchen, das sie fragten, erinnerte, dass sie in der dritten Klasse Galoschen getragen hatten.

    Ich war kein Schüler, der bei den Lehrern beliebt war. Nur Mrs. De Voto mochte mich, doch sie mochte alle Kinder, hauptsächlich, weil sie nicht wusste, wer überhaupt wer war. Sie schrieb »Billy singt mit Begeisterung« auf alle meine Zeugnisse, nur ein-, zweimal »Bobby singt mit Begeisterung«. Aber das verzieh ich ihr, denn sie war gütig und wohlwollend und roch gut.
    Die anderen Lehrer – alles Frauen, alle unverheiratet – waren groß, massig, misstrauisch,

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