Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
frustriert, autoritär und nicht gütig. Sie rochen auch merkwürdig – nach einer Mischung aus Kampher, Mentholpfefferminzbonbons und der kuriosen Auffassung (die sehr wohl zu ihrem Unverheiratetsein beigetragen haben mochte), dass sich großzügig Einpudern so gut wie ein Bad sei. Manche bepuderten sich seit Jahren, doch glauben Sie mir, es hatte keinen Zweck.
Mit konstanter Bosheit wollten sie immer komische Sachen von einem wissen, was ich verwirrend fand. Wenn man fragte, ob man zur Toilette könne, wollten sie wissen, ob man klein oder groß müsse, und diese Neugierde kam mir irgendwie krankhaft vor. Außerdem benutzten wir bei uns zu Hause diese Begriffe nicht. Bei uns zu Hause ging man entweder pieseln oder hatte Stuhlgang, ›Es-Te‹, doch meist ging man einfach »zur Toilette« und verkündete seine Absichten nicht öffentlich. Als ich also das erste Mal um die Erlaubnis bat zu gehen, hatte ich keinen blassen Schimmer, was die Lehrerin meinte, als sie mich fragte, ob ich klein oder groß müsse.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich freimütig und mit klarer Stimme, »wahrscheinlich richtigen Es-Te. Es könnte noch größer als groß sein.«
Für diese Antwort wurde ich in die Garderobe geschickt. Ich wurde oft in die Garderobe geschickt, häufig aus Gründen, die ich nicht recht verstand, aber es störte mich eigentlich nie. Schließlich war es eine merkwürdige Bestrafung, dass man wohin geschickt wurde, wo man mit den Pausenbroten und dem persönlichen Eigentum aller seiner Klassenkameraden allein war und niemand sah, was man damit anstellte. Man konnte die Zeit auch wunderbar nutzen, um sich seiner Privatlektüre zu widmen.
Intellektuell tat ich mich nicht sonderlich hervor. Auf meinem ersten Zeugnis für das erste Halbjahr der ersten Klasse stand eine einzige Bemerkung der Lehrerin. »Billy spricht leise.« Das war’s. Nichts über meinen Charakter oder mein Verhalten, meine wunderbaren Fortschritte beim Lesen und Schreiben, mein gewinnendes Lächeln oder meine stets zuversichtliche Haltung (»Das packen wir schon.«), nur ein knappes, rätselhaftes »Billy spricht leise.«. Es war nicht einmal deutlich, ob es sich um eine Rüge oder lediglich eine Bemerkung handelte. Nach dem zweiten Halbjahr stand in dem Zeugnis: »Billy redet immer noch leise.« In meinen sämtlichen anderen Zeugnissen war die Spalte für die allgemeine Beurteilung leer – wirklich jedes Mal, außer wenn Mrs. De Voto getreulich Bericht über mein begeistertes Liederschmettern erstattete. Es war, als sei ich gar nicht da. Was auch oft der Fall war.
Die Vorschule, in der ich schon mit Greenwood Bekanntschaft gemacht hatte, dauerte nur einen halben Tag lang. Man ging entweder morgens oder nachmittags hin. Ich wurde in die Nachmittagsgruppe gesteckt, was Glück war, denn damals stand ich selten vor Mittag auf. (Bei uns zu Hause waren wir alle Nachteulen.) Eines meiner allerersten Erlebnisse in der Vorschule war, dass ich mittags voller Tatendrang ankam und mit den Fingerfarben loslegen wollte und stattdessen angewiesen wurde, mich zum Mittagsschläfchen auf einen kleinen Teppich zu legen. Ausruhen mussten wir uns in den fünfziger Jahren viel; aus irgendeinem Grunde war es, glaube ich, mit der Annahme verbunden, man beuge damit Kinderlähmung vor. Doch ich war gerade erst aufgestanden, da schien es mir ein wenig extravagant, mich schon wieder hinzulegen. Im nächsten Jahr war es schlimmer, denn da mussten wir morgens um Viertel vor neun da sein, nicht unbedingt eine Zeit, zu der ich freiwillig aktiv wurde.
Am wohlsten fühlte ich mich am späteren Abend. Ich sah immer gern die Zehn-Uhr-Nachrichten mit Russ Van Dyke, dem weltbesten Fernsehnachrichtenmann überhaupt (sogar noch besser als Walter Cronkite), dann Abenteuer unter Wasser (irgendein genialer Kopf bei KRNT-TV war der Meinung, dass halb elf abends eine gute Zeit für eine bei Kindern beliebte Sendung sei, und es stimmte ja auch), und danach machte ich es mir mit einem größeren Stapel Comics gemütlich. Vor Mitternacht schlief ich selten, wenn mich meine Mutter also morgens rief, passte mir das normalerweise gar nicht. Wenn ich es irgend vermeiden konnte, ging ich also nicht zur Schule.
Vermutlich wäre ich niemals gegangen, wenn es nicht Matritzen gegeben hätte. Von all den tragischen Verlusten seit den fünfziger Jahren ist der Verlust der Matritzen vielleicht der größte. Mit ihrer hinreißend duftenden, süß aromatischen blassblauen Tinte waren sie buchstäblich
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