Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
durch den Flur und weiter in die Küche bewegten.
25 Minuten saßen sie mucksmäuschenstill da, zu peinlich berührt, als dass sie hätten reden können, denn sie wussten ja auch, dass mein Vater den gleichen Weg zurückgehen und diesmal die Begegnung frontal sein würde.
Zum Glück (insofern man hier ein solches Wort verwenden kann) hatte mein Vater sie offenbar im Vorbeigehen aus den Augenwinkeln heraus gesehen oder Stimmen oder Keuchen oder sonst etwas gehört – als er jedenfalls mit seinem Tablett zurückkam, war er in den flotten beigefarbenen Regenmantel meiner Mutter gewandet, womit er den Eindruck erweckte, dass er nicht nur ganz schön abartig, sondern nächtens auch ein Transvestit war. Im Vorbeigehen entbot er der versammelten Gesellschaft ein schüchternes, aber freundliches »Guten Abend« und verschwand die Treppe hinauf nach oben.
Ich glaube, es dauerte sechs Monate, bis meine Schwester wieder mit ihm sprach.
Interessanterweise merkte ich just zu der Zeit, in der ich meinen Fernseher erstand, dass ich Fernsehen eigentlich gar nicht mochte – oder, um es genauer auszudrücken, dass ich das, was es im Fernsehen gab, nicht sehr mochte. Den Fernseher an sich hatte ich gern: Ich mochte die ständige Abfolge von Geschwätz und hirnlosem Gelächter. Deshalb ließ ich es meist wie einen geistig zurückgebliebenen Verwandten in der Ecke vor sich hin brabbeln und las. Ich war nun in einem Alter, in dem ich viel las, stets und ständig. Ein- oder zweimal die Woche stieg ich hinunter ins Wohnzimmer, wo es zu beiden Seiten des Fensters nach hinten hinaus zwei riesige (so schien es mir jedenfalls) Einbaubücherschränke gab. Die waren voll mit den Büchern meiner Eltern, meist gebundenen Exemplaren, meist aus dem Buch-des-Monats-Buchclub, meist aus den 1930ern und 1940ern, und ich suchte mir drei oder vier aus und ging wieder nach oben in mein Zimmer.
Ich war unbekümmert willkürlich in meiner Auswahl, denn ich hatte kaum eine Ahnung, welche Bücher von der Kritik anerkannt und welche populärer Mist waren. Neben vielem anderen las ich Trader Horn. Abenteuer an der Elfenbeinküste; Die Brücke von San Luis Rey; Our Hearts Were Young and Gay ; Manhattan Transfer ; You Know Me , Al; Die treue Nymphe; Der verlorene Horizont , die Kurzgeschichten von Saki, mehrere witzige Anthologien von Bennett Cerf, einen aufregenden Bericht über das Leben auf der Teufelsinsel mit dem Titel Dry Guillotine und mehr oder weniger das Gesamtwerk von P. G. Wodehouse, S.S. Van Dine und Philo Vance. Eine besondere Schwäche hatte ich für – und ich glaube, ich war der letzte Mensch, der es las – Der grüne Hut von Michael Arlen und seine wunderbaren, unvergleichlichen Namen: Lady Pynte, Venice Pollen, Hugh Cypress, Hauptmann Victor Duck und – unübertrefflich! – Trehawke Tush.
Bei einem dieser Sammeltrips stieß ich auf einem unteren Regal auf ein Jahrbuch der Drake University von 1936. Als ich es durchblätterte, entdeckte ich zu meinem höchsten, vollkommenen Erstaunen, dass meine Mutter in dem Jahr die Homecoming-Queen beim Ehemaligenfest gewesen war. Auf einem Bild steht sie auf einem Festzugswagen, strahlt vor Glück, ist jugendlich schlank und trägt ein glitzerndes Diadem. Ich ging mit dem Buch in die Küche, wo ich meinen Vater beim Kaffeekochen fand. »Wusstest du, dass Mom die Homecoming-Queen an der Drake war?«, fragte ich.
»Natürlich.«
»Wie kam das denn?«
»Na, sie wurde von ihren Kommilitonen gewählt! Deine Mom war nämlich eine wahre Augenweide.«
»Echt?« Ich war noch nie auf den Gedanken gekommen, dass meine Mutter anders als mütterlich aussah.
»Ist sie natürlich immer noch«, fügte er galant hinzu.
Ich fand es verblüffend, ja, eigentlich nicht angebracht, dass andere Menschen meine Mutter attraktiv oder begehrenswert fanden. Dann erwärmte ich mich allmählich für die Vorstellung. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen. Sieh mal einer an!
Ich stellte das Buch zurück. Gleich daneben im Regal waren noch acht oder neun Bücher mit dem Titel Beste Sportgeschichten 1950 und so weiter für fast jedes Jahr bis zur damaligen Gegenwart und jedes enthielt dreißig, vierzig der besten Artikel des jeweiligen Jahres über Sportereignisse, die von jemand Berühmtem wie zum Beispiel Red Barber ausgewählt worden waren. Und in jedem dieser Bände stand ein Artikel – manchmal sogar zwei – von meinem Vater. Oft war er der einzige Journalist aus der Provinz, der vertreten war. Ich setzte mich auf
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