Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
recht. Ich war doch eben noch so glücklich gewesen.
Bevor ich auch nur in irgendeiner sinnvollen Weise reagieren konnte, biss mich Dewey beherzt ins Bein, direkt unter der linken Pobacke, und warf mich zu Boden. Er zerrte mich ein bisschen hin und her – ich weiß noch, dass meine Finger durch Gras streiften – und gab mich dann abrupt frei, stieß ein verwirrtes, spielerisches, dumpfes Bellen aus und raste zurück in das Randbeet mit den Büschen, von wo er gekommen war. Wütend und gründlich durchzaust, watschelte ich zur nächsten Laterne an der Straße und zog mir die Hosen herunter, um den Schaden zu begutachten. Meine Jeans waren zerrissen und in dem fleischigen Teil meines Oberschenkels war ein kleines Loch mit einem winzigen Tröpfchen Blut. Es tat eigentlich nicht sehr weh, wuchs sich aber am nächsten Tag zu einem wunderbar purpurfarbenen blauen Fleck aus, den ich in der Jungentoilette einem zahlreichen, anerkennenden Publikum zeigte, einschließlich Mr. Groober, dem merkwürdigen, stummen Schulhausmeister, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem Ort mit hohen Mauern entkommen und noch niemals bei irgendetwas so freudig erregt gewesen war. Nach der Schule musste ich zum Arzt, wo ich eine Tetanusspritze bekam, was ich, wie Sie sich vorstellen können, weniger zu schätzen wusste.
Obwohl meine Wunde der Beweis war, weigerten sich die Haldemans immer noch, zu glauben, dass mich ihr Köter gebissen hatte. »Dewey?«, lachten sie. »Dewey tut doch keiner Fliege was zuleide, Herzchen. Und wenn es dunkel ist, verlässt er auch gar nicht das Grundstück. Der hat doch Angst vor seinem eigenen Schatten.« Und dann lachten sie wieder. Mich, behaupteten sie steif und fest, habe ein anderer Hund gebissen.
Nur gut eine Woche später attackierte Dewey Mrs. Haldemans Mutter, die aus Kalifornien zu Besuch war. Er warf sie zu Boden und war kurz davor, ihr das Gesicht vom Schädel zu reißen, was meinem Fall sehr nützlich gewesen wäre. Zum Glück kam Mrs. Haldeman gerade noch rechtzeitig, um ihre Mutter zu retten, und begriff die erschreckende Wahrheit über ihr geliebtes Haustier. Dewey ward in einem Lieferwagen weggebracht und nie wieder gesehen. Ich glaube, eine solche Genugtuung habe ich nie wieder empfunden. Eine Entschuldigung hörte ich nie. Dafür klebte ich ihnen jeden Tag heimlich einen Popel in die Zeitung.
Reiche Leute zogen aber wenigstens nicht weg, ohne einem Bescheid zu sagen. Mein Freund Doug Willoughby hatte eine Zeitungstour am weniger noblen Ende der Grand Avenue, die zur Hauptsache aus komisch riechenden Mietshäusern bestand, in der lauter Habenichtse, chronisch Kranke und Menschen wohnten, die durch die Wände und nicht immer freundlich miteinander kommunizierten. Dougs Häuser waren alle düster und ohne Teppiche und die Flure stets so lang und schlecht beleuchtet, dass man ihr Ende nicht sehen konnte und deshalb nie wusste, was einen dort erwartete. Man brauchte Mut und Willensstärke, schon um die Gebäude nur zu betreten. Regelmäßig entdeckte Willoughby, dass ein Kunde ausgezogen (oder in Handschellen abgeführt worden) war, ohne dass er das Abo-Geld bekommen hatte, und dann musste der arme Kerl den Differenzbetrag aus eigener Tasche bezahlen. Der Register musste grundsätzlich nie draufzahlen, nur der Zeitungsjunge. Willoughby erzählte mir einmal, dass er in seiner besten Woche vier Dollar verdient hatte, und da waren die Trinkgelder zu Weihnachten schon mit drin.
Ich hingegen prosperierte, besonders wenn ich meine Sonderzulagen miteinberechnete. Kurz vor meinem zwölften Geburtstag war es so weit: Ich konnte 102,12 Dollar in bar – eine enorme Summe, schon rein praktisch, denn es dauerte minutenlang, die hauptsächlich kleinen Münzen an der Kasse vorzuzählen – für einen tragbaren RCA-Schwarz-Weiß-Fernseher mit einer Klappantenne hinlegen. Es war ein neues schlankes Modell aus weißlich grauem Plastik mit den Reglerknöpfen oben – eine aufregende Novität – und extrem elegant. Ich trug ihn in mein Zimmer hoch, schloss ihn an, schaltete ihn ein und wurde nur noch selten im übrigen Haus gesehen.
Von nun an nahm ich jeden Abend mein Essen auf einem Tablett mit in mein Zimmer und sah meine Eltern, außer bei besonderen Anlässen wie Geburtstagen oder Thanksgiving, kaum mehr. Von Zeit zu Zeit trafen wir uns natürlich zufällig im Flur und an heißen Sommerabenden setzte ich mich bisweilen zu einem Glas Eistee zu ihnen auf die Veranda, doch meist gingen
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