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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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einer weißen Bank darum herum beherrscht. Man hatte den Eindruck, dass in den oberen Ästen immer eine Brise speziell für sie wehte. Es war das kühlste Fleckchen im Umkreis von 150 Kilometern. Hier saß man an den ruhigen Abenden vor oder nach dem Essen zum Erbsenpulen und Grüne-Bohnen-Schnibbeln oder drehte eine Kurbel, um Eiskrem herzustellen.
    Das Haus meiner Großeltern war sehr ordentlich und klein – mit nur zwei Schlafzimmern, einem oben, einem unten –, aber extrem behaglich, und es kam mir immer geräumig vor. Als ich Winfield Jahre später einmal wieder besuchte, war ich überrascht, wie winzig es in Wirklichkeit war.
    Aus sicherer Entfernung sah die Scheune aus, als könne man an keinem Ort der Welt besser und unterhaltsamer spielen. Sie wurde schon seit langem nur noch zum Aufbewahren alter Möbel und von Krimskrams benutzt, den niemand mehr brauchte. Es gab Türen, an denen man schaukeln konnte, geheime Lagerräume und Leitern, die zu dunklen Heuböden führten. Eigentlich aber war die Scheune meines Großvaters schrecklich, denn sie war schmutzig und dunkel und lebensgefährlich und jeder Zentimeter roch. Man konnte keine fünf Minuten darin verbringen, ohne sich die Schienbeine am unflexiblen Teil einer Maschine zu stoßen, sich den Arm an einer alten Messerklinge aufzuratschen, mit mindestens drei verschiedenen Sorten Tierkot (alle Jahre alt, aber immer noch weich in der Mitte) in Kontakt zu kommen, mit dem Kopf an einem nagelgespickten Balken anzuecken und dann in eine klebrige Spinnwebmasse zurückzuprallen, sich vom Nacken bis zum Po in einem Ballen Stacheldraht zu verheddern oder sich von oben bis unten mit zahnstochergroßen Splittern zu spicken. Die Scheune war ideal für ein Ganzkörpertraining des Immunsystems.
    Am meisten hatte man Angst davor, dass eine der schweren Türen hinter einem zuschlagen und man für immer und ewig in der übel stinkenden Dunkelheit gefangen sein würde, zu weit vom Haus entfernt, als dass dort die jämmerlichen Schreie vernommen würden. Ich stellte mir immer vor, dass meine Familie am Abendbrottisch saß und einer sagte: »Hm, was ist wohl aus dem alten Billy geworden? Wie lange ist es jetzt her? Fünf Wochen? Sechs? Na, der Auflauf würde ihm ganz bestimmt schmecken, meint ihr nicht? Ich jedenfalls nehme mir noch etwas, wenn ich darf.«
    Noch Furcht einflößender waren die Maisfelder, die sich von allen Seiten herandrängten. Mais wächst nicht mehr so hoch wie früher, weil er zu einer kompakten Idealform gezüchtet worden ist, doch als ich klein war, schoss er wie Bambus hoch und erreichte Höhen von 2,50 Metern oder mehr und gegen Ende des eher trockenen Spätsommers erklang auf den 56 290 Quadratmeilen des Landes von Iowa überall sein gespenstisches, bedrohliches Rascheln. Keine Umgebung ist – insbesondere für ein dummes, kleines Menschlein – so anonym, labyrinthisch und beunruhigend wie ein Feld mit unendlich langen, hohen und identisch aussehenden Maispflanzenreihen, von denen jede – einschließlich der diagonal verlaufenden – den Eindruck grenzenloser pflanzlicher Feindseligkeit machte. Schon wenn man bloß am Rand stand und hineinspähte, wusste man: Wagte man sich je mehr als ein paar Meter in ein Maisfeld hinein, so fand man nie wieder heraus. Rollte einem beim Spielen der Ball hinein, ließ man ihn darin liegen, schrieb ihn ab, ging ins Haus und sah fern.
    Ich spielte in Winfield aber nicht viel allein, sondern verbrachte viel Zeit damit, hinter meinem Großvater herzutrotten. Er mochte es offenbar, wenn ich ihm Gesellschaft leistete. Wir verstanden uns sehr gut. Mein Großvater war ein stiller Mann, erklärte aber immer gern, was er tat, und freute sich, wenn er jemanden hatte, der ihm eine Ölkanne oder einen Schraubenzieher anreichte. Er hieß Pitt Foss Bryson, und den Namen fand ich spitze. Nach Ernie Banks war er der netteste Mann der Welt.
    Er baute immer etwas zusammen – einen kaputten Rasenmäher oder eine Waschmaschine; irgendwas mit Keilriemen und Klingen und vielen rasend schnell surrenden Teilen – und er schnitt sich immer spektakulär. Irgendwann nämlich zündete er den Motor des Geräts, langte hinein, um etwas geradezubiegen, rief beinahe sofort »Dammich!« und zog eine blutige, angeschredderte Hand heraus. Die hielt er eine Weile lang vor sich in die Höhe und wackelte mit den Fingern, als erkenne er sie gar nicht mehr richtig.
    »Ohne Brille kann ich nichts sehen«, sagte er schließlich. »Wie viele Finger hab

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