Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
wir getrennte Wege. So gesehen glich unser Haus weniger dem Heim einer Familie als einer Pension – einer freundlichen Pension, in der die Leute gut miteinander auskamen, aber Wert auf ihre Privatsphäre legten und die der anderen achteten.
Für mich war das alles vollkommen normal. Wir waren nie eine eng zusammengluckende Familie, wenn ich jetzt so zurückdenke. Jedenfalls nicht im traditionellen Sinn. Meine Eltern waren freundlich, sogar liebevoll, doch irgendwie immer leicht zerstreut und mit den Gedanken woanders. Meine Mutter war ewig und drei Tage damit beschäftigt, Flecken an Kragen zu bearbeiten oder Kartoffeln von den Ofenwänden zu kratzen – irgendwas versuchte sie immer abzuscheuern –, und mein Vater war entweder weg, um für die Zeitung von einem Sportereignis zu berichten, oder er war in seinem Zimmer und las. Sehr selten gingen sie ins Kino – im Varsity Theater wurden von Zeit zu Zeit Filmkomödien mit Peter Sellers gezeigt, die sie insgeheim liebten – oder zur Bibliothek. Meist blieben sie einfach glücklich und zufrieden zu Hause und hielten sich in verschiedenen Zimmern auf.
Jeden Abend gegen elf Uhr oder ein wenig später hörte ich, wie mein Vater nach unten ging und sich in der Küche einen Happen zu essen machte. Die Happen zu essen meines Vaters waren legendär. Die Zubereitungszeit betrug mindestens 30 Minuten, und alle möglichen Zutaten, die er penibel vor sich aufbaute, kamen zum Einsatz – Ritz-Cracker, ein großes Glas Senf, Weizenkeime, Radieschen, zehn Hydrox-Kekse, ein riesiger Becher Schokoladeneis, mehrere Scheiben Frühstücksfleisch, frisch gewaschene Salatblätter, Cheez Whiz, Erdnussbutter, Erdnusskrokant, ein, zwei hartgekochte Eier, ein kleines Schälchen Nüsse, Wassermelone, wenn es sie gab, vielleicht eine Banane. Alles wurde hübsch geschält, geputzt, in Scheiben und in Würfel geschnitten, gestapelt oder geschichtet, je nachdem, ansprechend arrangiert auf einem großen braunen Tablett und weggetragen, um während der nächsten Stunden konsumiert zu werden. Keiner von diesen Happen hatte weniger als 12000 Kalorien und mindestens 80 Prozent davon steckten in Cholesterin und gesättigten Fettsäuren, doch mein Vater nahm nie auch nur ein Gramm zu.
Noch etwas war bemerkenswert, wenn mein Vater sich seine Happen machte. Er bereitete sie mit nacktem Hinterteil zu. Nicht, möchte ich schnell hinzufügen, weil er meinte, die Happen würden besser, wenn man bei der Zubereitung seinen Allerwertesten entblößte, sondern er kam schon mit nacktem Po herunter. Eine seiner kleinen Marotten war nämlich, dass er von der Taille abwärts nackt schlief. Er fand es bequemer und gesünder, die untere Körperhälfte nachts freizulegen und trug im Bett nur ein ärmelloses T-Shirt. Und wenn er hinunterging, um einen Happen zu komponieren, war er eben immer derart bekleidet (oder unbekleidet). Weiß der Himmel, was Mr. und Mrs. Bukowski nebenan dachten, wenn sie die Vorhänge zuzogen und (unter Garantie) auf der anderen Seite des Zauns sahen, wie mein Vater mit bloßem Hinterteil in seiner Küche herumtappte, hoch in Regale langte und die Rohstoffe für sein nächtliches Festmahl zusammenstellte.
Im Nachbarhaus mochte es Bestürzung hervorrufen, doch in unserem Haus merkte man gar nichts davon, denn alle schliefen schon tief und fest in ihren Betten (oder lagen im Dunkeln und sahen sehr leise fern, wie ich). Doch eines Freitags ungefähr im Jahre 1963 ging mein Vater spätabends nach unten, wo meine Schwester, was er nicht wusste, Gäste hatte. Genauer: Sie und ihre Freundinnen Nancy Ricotta und Wendy Spurgin lagerten mit ihren Freunden im Wohnzimmer, sahen im Dunkeln fern und putzten einander ihre Luftröhren mit den Zungen (habe ich mir jedenfalls immer vorgestellt), da wurden sie plötzlich von einem Licht im Flur des ersten Stocks und den Geräuschen meines Vaters aufgeschreckt, der die Treppe herunterkam.
Wie in den meisten amerikanischen Häusern war das Wohnzimmer in unserem Haus mit den Räumen dahinter durch eine türlose Öffnung verbunden, einen Bogendurchgang, der ungefähr 1,80 Meter breit war, was bedeutete, dass man dort praktisch nicht für sich war und der Klang herannahender Erwachsenenschritte ernst genommen werden musste. Die sechs jungen Menschen nahmen sofort schickliche Positionen ein und schauten gerade rechtzeitig zu dem Durchgang, um meines Vaters leicht wackelnde, vom gespenstischen Flackern des Fernsehers schwach illuminierte Pobacken zu sehen, die sich
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