Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
ich hier?«
»Fünf, Grandpa.«
»Na, dann ist es ja gut«, erwiderte er. »Ich hätte einen verlieren können.« Dann ging er und suchte sich einen Verband oder einen Lappen.
Irgendwann nachmittags steckte meine Großmutter den Kopf in die Hintertür und sagte: »Dad, du musst in die Stadt fahren und mir ein paar Steckrüben besorgen.« Sie nannte ihn immer Dad, obwohl er den wunderbaren Namen hatte und nicht ihr Vater war. Das verstand ich nie. Und er musste ihr immer Steckrüben besorgen. Das verstand ich auch nie, denn ich erinnere mich nicht, dass irgendwem von uns mal Steckrüben aufgetischt wurden. Vielleicht war es ein Codewort für Präservative.
Mit ihm in die Stadt zu fahren war immer etwas ganz Besonderes. Es war nicht mal ein halber Kilometer bis dahin, doch wir beide gingen nie zu Fuß, und wenn man auf dem hohen Sitz im Chevy meines Großvaters saß, fühlte man sich wie ein König. Das Stadtzentrum in Winfield bestand aus der Hauptstraße, an der sich zwischen drei Querstraßen ein ruhiges Geschäftsleben abspielte mit einer Post, zwei Banken, ein paar Tankstellen, einer Gaststätte, einer kleinen Zeitungsredaktion, zwei kleinen Lebensmittelläden, einem Billardsalon und einem Kramladen.
Den letzten Halt bei jeder Einkaufstour machten wir in einem Lebensmittelladen an einer Ecke. Er hieß Benteco’s und hatte eine Eingangstür mit Fliegengitter, die immer ein zutiefst befriedigendes, dumpfes Kerboing von sich gab und jedes Eintreten zum Ereignis machte. Bei Benteco’s durfte ich mir stets zwei Flaschen NeHi-Sprudel aussuchen – eine zum Abendessen, eine für danach, wenn wir Karten spielten oder Bilko 12 oder Jack Benny im Fernsehen sahen. NeHi war die Limonade der Kleinstädte – warum, weiß ich nicht –, und sie hatte den intensivsten Geschmack und die quirligsten Farben, die je ein Produkt hatte, das von den Lebensmittelkontrollbehörden für den menschlichen Verzehr freigegeben worden ist. Es gab NeHi in sechs ausgewählten Geschmacksrichtungen – Pampelmuse, Erdbeer, Orange, Kirsch, Limette-Zitrone (nie »Zitrone-Limette«) und Root Beer, und sie waren alle so machtvoll aromatisch, dass einem die Augen tränten wie ein unbeaufsichtigter Sprinkler, und mit derart viel Kohlensäure versetzt, dass es sich anfühlte, als schlucke man tausend winzige Rasierklingen. Es war wunderbar.
Das NeHi bei Benteco’s wurde in einem großen blauen, sehr eisigen Kühlgerät aufbewahrt, das aussah wie eine Tiefkühltruhe; die Flaschen waren in Reihen am Hals aufgehängt. Um an eine bestimmte Flasche zu kommen, meinetwegen die letzte Flasche Pampelmuse, bedurfte es meist viel komplizierten Manövrierens, und man musste die Flaschen von einer Reihe in eine andere verschieben. (Pampelmuse war die Geschmacksrichtung, von der man tatsächlich Halluzinationen kriegte; ich habe nach dem Genuss von NeHi-Pampelmuse einmal bis zum Rand des Universums gesehen.) Sich die Flaschen selbst in der Kühltruhe auszusuchen, besonders an einem heißen Tag, wenn man sich in der feuchten kalten Luft aalen konnte, machte großen Spaß. Musste man jedoch warten, bis sich ein anderes Kind etwas ausgesucht hatte, war es die reinste Folter.
In Winfield sah ich übrigens sehr viel fern. Meine Großeltern hatten den besten Fernsehsessel – einen verstellbaren beigefarbenen Lehnstuhl aus Kunstleder, teils Karusellsitz, teils Kapitänssitz in einem Raumschiff, und absolut bequem. Es war ein Gegenstand von einzigartiger Schönheit und Nützlichkeit. Wenn man an dem Hebel zog, wurde man so tief nach hinten heruntergelassen – nein, geschleudert –, dass es so gut wie unmöglich war, sich wieder zu erheben. Doch das machte nichts, weil man sagenhaft bequem lag und sich ohnehin nicht bewegen wollte. Man lag einfach da und sah durch seine gespreizten Füße fern.
Meine Großeltern kriegten sieben Sender auf ihrem Apparat (wir in Des Moines nur drei), doch nur, wenn man die Dachantenne verstellte, was man mit Hilfe einer Kurbel an der Außenwand hinter dem Haus bewerkstelligte. Wollten wir also zum Beispiel KTVO aus Ottumwa empfangen, musste mein Großvater hinausgehen und die Kurbel ein wenig in eine Richtung drehen, wollten wir WOC aus den Quad Cities sehen, in die andere Richtung und bei KWWI aus Waterloo noch einmal anders, doch jedes Mal brauchte er dazu Anweisungen, die wir ihm durch das Fenster zuriefen. Wenn es windig oder die Sonnenaktivität hoch war, musste er während einer Sendung bisweilen acht- oder neunmal
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