Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
hinausgehen. Und wenn es sich um eine der geliebten Sendungen meiner Großmutter handelte wie Jung und leidenschaftlich oder Queen for a Day , blieb er meist gleich draußen für den Fall, dass ein Flugzeug vorüberflog und in einem entscheidenden Augenblick nur noch Wellen über den Bildschirm waberten. Er war der geduldigste Mensch, der je gelebt hat.
Ich schaute damals überhaupt viel fern. Wir alle schauten viel fern. 1955 hatte das US-amerikanische Kind im Durchschnitt 5000 Stunden ferngesehen – gegenüber null Stunden fünf Jahre zuvor. Meine Lieblingssendungen waren (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge): Zorro , Bilko , The Jack Benny Show , Dobie Gillis , Alle lieben Bob , Abenteuer unter Wasser , I Led Three Lives , Corky und der Zirkus , Sugarfoot , Dezernat M , Polizeibericht , Vater ist der Beste , Wenn man Millionär wär , Rauchende Colts , Robin Hood, Die Unbestechlichen , What’s My Line , I’ve Got a Secret , Route 66 , Topper und 77-Sunset-Strip , doch eigentlich schaute ich alles.
Meine allerliebste Lieblingssendung war die Burns and Allen Show mit George Burns und Gracie Allen. Ich war von der Sendung nicht nur vollkommen bezaubert, weil ich die Charaktere und ihre Namen so mochte – Blanche Morton, Harry Von Zell –, sondern auch, weil ich fand, dass George Burns und Gracie Allen das witzigste Komikerpaar aller Zeiten waren. George verzog nie eine Miene, und Gracie kriegte immer alles in den falschen Hals. Außerdem hatte George ein Fernsehgerät in seiner Bude, auf dem er beobachten konnte, was seine Nachbarn trieben, ohne dass sie es wussten, und das fand ich eine geradezu brillante Idee, die auch so manche eigene Fantasie anregte. Er trat oft aus der Inszenierung heraus und sprach direkt mit dem Publikum über das, was da vor sich ging. Das Ganze war seiner Zeit um Jahre voraus. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der sich daran erinnert, ganz zu schweigen davon, dass er es auch so liebte.
Fast jeden Sommerabend in Winfield gingen wir kurz vor sechs zu Fuß in die Stadt (alle Bewegungen auf das Zentrum zu waren als »in die Stadt gehen« bekannt). Auf dem schattigen Rasen an einer Kirche nahmen wir an einem riesigen Abendessen teil, zu dem jeder was mitbrachte. Es wurde von Heerscharen stattlicher, kichernder Frauen veranstaltet, die unglaublich schlaffe Arme und Hälse hatten, an denen die Haut wie nasse Säcke herunterhing. Alle hießen sie Mabel, litten sehr unter der Hitze, beschwerten sich aber nie, sondern lachten in einem fort und waren fröhlich. Außerdem waren sie unentwegt damit beschäftigt, mit Bratenwendern Fliegen vom Essen zu verscheuchen (wobei sie ihre alten Arme auf eine hypnotisierende Weise zum Wabbeln brachten), sich lose Haarsträhnen aus dem Gesicht zu blasen und dafür zu sorgen, dass kein menschliches Wesen in einem Umkreis von 50 Metern ohne einen Pappteller dastand, auf dem ein Haufen herzhaften, aber zutiefst merkwürdigen Essens lag – und Gerichte in den 1950er Jahren, lassen Sie mich das sagen, waren wirklich merkwürdig. Der Hauptgang bei diesen Abendessen bestand fast immer aus einer Auswahl an Hackbraten, alle ungefähr von der Größe eines V8-Motors, alle mit einer glänzenden Soße und gespickt mit einer atemberaubenden Menge kurioser Zutaten, die Namensgeber dieser Kreationen waren – Erdnusskrokant-’n’-Cheez-Whiz-Frühstücksfleischbraten, gestürzt, und dergleichen. Fast alle hatten an irgendeiner Stelle mindestens ein »’n’« und »gestürzt« im Namen. Und es gab immer ungefähr 20 davon. Der treibende Gedanke war offenbar, dass kein Gericht zu süß oder zu seltsam war und alles Essen automatisch leckerer wurde, wenn man es gestürzt servierte.
»He, Dwayne, komm her und probier mal diesen scharfen Leber-’n’-kandierter-Mais-Schmortopf, gestürzt«, sagte wohl eine der Mabels. »Mabel hat ihn gemacht. Köstlich!«
»Gestürzt?«, erwiderte Dwayne todernst, was anzeigte, dass eine witzige Bemerkung folgen würde. »Was ist passiert – hat sie ihn fallen lassen?«
»Na, ich weiß nicht, vielleicht«, erwiderte Mabel kichernd. »Willst du Schokoladenbratensoße dazu oder Kekssoße oder Ernussbutter-’n’-Maissplitter-Soße?«
»Na, wie wär’s mit einem bisschen von allem?«
»Sofort.«
Die Beilagen zu den Hauptgängen bestanden aus einem Tisch voll kunterbunter Wackelpuddinge, der typischen Frucht des Staates, die noch mehr fantasievolle Zutaten enthielten – Marshmallows, Salzbretzelchen, Obststücke, Rice
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